Eine Sünde zuviel
Chefin plötzlich vor sich zu sehen. »Gu-guten Tag …«, sagte er fast erschrocken. »Wir haben gar nicht gewußt, Frau Dahlmann, daß Sie heute …«
»Es soll auch niemand wissen, hören Sie?« Luise sah den jungen Apotheker an. »Bitte, sagen Sie nichts im Laden. Ich will meinen Mann überraschen –«
Auf den Arm Fräulein Pleschkes gestützt, ging sie die Treppe hinauf in die Privatwohnung. Es waren nur wenige Stufen, aber für Luise war es wie das Erklettern eines riesigen Berges. Vor der Wohnungstür blieb sie stehen und tastete nach der Klinke. Wie gut es geht, dieses Blindspielen, dachte sie dabei.
»Bitte, schließen Sie auf, Erna«, sagte sie leise. »Und dann können Sie auf Ihr Zimmer gehen. In der Wohnung finde ich mich allein zurecht. Ich kenne ja jede Ecke …« sie lächelte schwach. »Bin ja oft genug an sie angestoßen …«
Fräulein Pleschke schloß die Tür auf und zog sie hinter Luise wieder zu. Dann ging sie auf ihr Zimmer, froh, nach der langen Reise allein zu sein. Außerdem wollte sie ihren Studenten anrufen. »Ich bin wieder da … wir sehen uns morgen wie immer im Park …«
Luise durchquerte die große Diele, blieb vor dem Garderobespiegel stehen, ordnete noch einmal ihr Haar und lauschte in die stille Wohnung. Hinter der Tür des Wohnzimmers hörte sie leise Ernsts Stimme, dazu ein Kichern, das merkwürdig wie mit einem Seufzen erstarb.
Ihr Herzschlag setzte einen Augenblick aus … es war ihr, als müsse sie jetzt, in dieser Sekunde, zerspringen, auseinandergerissen von einer inneren Explosion. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß und ging auf die Wohnzimmertür zu.
Wieder dieses Kichern … die Stimme Monikas … ein paar Worte von Ernst … Füßescharren … ein leiser, kehliger Aufschrei von Monika …
Luise drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Was sie sah, ließ ihr Blut wie einen Eisstrom durch die Adern fließen. Ernst Dahlmann saß mit Monika auf dem Sofa in der Blumenecke. Er hatte seine Schwägerin weit zurückgebeugt und lag halb über ihr. Dabei küßte er sie leidenschaftlich und zerwühlte mit beiden Händen ihre langen, goldblonden Haare. Sie hielt ihn mit beiden Armen umschlungen und gab sich mit dem Ausdruck fast irrer Seligkeit seinen Liebkosungen hin.
Luise ließ die Tür aus ihrer Hand gleiten. Sie schlug zu, und das Paar fuhr erschrocken auseinander. Monika stieß einen hellen Schrei aus und umklammerte Dahlmanns Hals. Sie starrten Luise wie eine Geistererscheinung an, sprachlos, entsetzt, hilflos, bis sich Dahlmann faßte und noch einmal, dieses Mal tröstend, Monika küßte. Sie ist doch blind, hieß das. Sie sieht es doch nicht. Warum regen wir uns auf?
»Luiserl!« sagte Dahlmann, und seine Stimme war sogar freudig-erregt. »Welche Überraschung! Mein Gott, hast du uns einen Schrecken eingejagt, als sich plötzlich die Tür wie von selbst bewegte.« Er sprang auf, drückte Monika auf das Sofa zurück und eilte auf Luise zu. Er umarmte sie, küßte sie auf die Stirn, und Luise ließ es geschehen, steif, bis ins Innere erfroren vor Grauen und Kummer. »Komm, Luiserl«, sagte Dahlmann und führte sie zu einem Sessel. »Hast du dich gut erholt? Komm, ich helfe dir … stoß nirgendwo an … Monika ist auch hier … sie ist noch ganz starr vor Überraschung. Na, Moni … nun sag doch mal was!«
»Du siehst blendend aus, Luise.« Monika stand auf, beugte sich über ihre Schwester und küßte sie ebenfalls. Wie das Einbrennen eines Brandmals empfand Luise diesen Kuß … sie schloß die Augen, um nicht laut aufzuschreien und um sich zu schlagen, mit den Fäusten, immer und immer wieder in diese Gesichter hinein, die rot und schweißig waren von ihrer Sünde und deren Münder zu ihr, der Blinden, die zärtlichsten Lügen sprachen.
»Moni, koch sofort einen starken Kaffee!« rief Dahlmann und tätschelte Luise die Hände. »Nicht wahr, du willst doch einen Kaffee, Luiserl … nach dieser langen Reise …«
Sie nickte und sah, wie sich Monika und Ernst zublinkerten, wie er tröstend über ihre zerwühlten Haare strich und sie über ihren Kopf hinweg küßte.
O ihr Schufte, dachte Luise. Ihr gemeinen Lumpen. Mein Mann und meine Schwester … die Liebsten, die ich auf der Welt hatte … Das einzige, woran ich als Blinde noch hing, mit aller Liebe, mit allem Vertrauen, mit allem Glauben an das Gute, mit allem Zauber der Illusionen …
Ihr Kopf sank nach hinten auf die Lehne des Sessels, sie umklammerte die Lehne und weinte laut. Dahlmann
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