Eine süße Versuchung für Marcy
Gewicht der Welt auf seinen Schultern.
Eric bemerkte, dass Marcy den Jungen voller Mitleid anschaute. Er nahm an, dass der Teenager genau wusste, welche Menschen man mit welchen Methoden um den Finger wickeln konnte. Das war seine Überlebensstrategie. Vermutlich würde er sich ab sofort an Marcy halten, denn er hatte erkannt, dass er ihr Mitgefühl gewonnen hatte.
„Was möchtest du trinken?“, fragte sie ihn.
„Milch. Wenn Sie welche haben.“
„Du weißt doch bestimmt, was im Kühlschrank ist“, schaltete Eric sich ein. „Essen Sie nichts?“, fragte er, als Marcy ihnen die Teller reichte.
„Ich habe in der Kneipe gegessen.“
Plötzlich spürte er die Wirkung der langen Autofahrt. Von einer Minute auf die andere war er vollkommen erschöpft. Er hatte auch keinen Hunger mehr und keine Lust auf Probleme oder lange Diskussionen, sondern wollte nur noch schlafen.
Den Start in sein neues Leben hatte er sich anders vorgestellt. Willkommen in Kalifornien!
„Du kannst im Wohnzimmer schlafen“, bot er Dylan an. Wenn der Junge in den vergangenen fünf Tagen nichts weiter als Essen stibitzt, hatte, würde er auch jetzt wohl kaum etwas anderes stehlen. „Wir reden morgen weiter.“
Dylan erwiderte er nichts. Mit gierigen Bissen verschlang er sein Sandwich. Eric warf Marcy einen Blick zu.
Herausfordernd sah sie ihn an. „Was ist?“
„Wo haben Sie übernachtet?“
„Im Schlafsack in Ihrem Schlafzimmer. Die Möbel sind heute aufgestellt worden. Ihr Bett ist übrigens auch frisch bezogen. Ich nehme eines der anderen Schlafzimmer. Den Rest klären wir morgen. Gute Nacht.“
Wenn man ihr gegenüberstand, war sie noch viel munterer als am Telefon. Sie benahm sich überhaupt nicht wie eine Angestellte. Nicht, dass es Eric etwas ausgemacht hätte. Es irritierte ihn bloß, dass er sie so falsch eingeschätzt hatte. Das passierte ihm nur selten.
Er sah Dylan beim Essen zu. Eric wusste, was mit Teenagern auf den Straßen von New York passieren konnte. In der Universitätsstadt Davis war es vermutlich nicht so schlimm, aber jeder Mensch hatte etwas Besseres verdient, als sich sein Essen zusammenbetteln oder in leer stehenden Häusern übernachten zu müssen. Er wusste aber auch, dass jeder, der sich mit einem Obdachlosen abgab, früher oder später die Quittung dafür bekam.
Instinktiv hätte er dem Jungen gern vertraut, aber er sollte besser vorsichtig sein. „Möchtest du noch ein Sandwich?“
„Sie hat heute Schokoladenplätzchen gebacken, aber die sind wohl für Sie.“ Dylan zeigte auf eine Plastikschüssel auf der Küchentheke.
Eric lehnte sich zurück, nahm die Dose und stellte sie vor den Jungen. Der zögerte nicht lange. Hastig öffnete er den Deckel und nahm eine Handvoll Kekse heraus. Eric holte die Milchtüte wieder aus dem Kühlschrank und beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Der Junge würde schon reden, wenn er dazu bereit war.
Kurz darauf tauchte Marcy noch einmal im Türrahmen auf. „Ich habe Dylan ein Nachtlager auf dem Sofa gemacht“, verkündete sie und verschwand so schnell und leise, wie sie gekommen war.
Sie spülten ihre Teller im Ausguss ab und gingen ins Wohnzimmer. Das Sofa wirkte einladend. Da es eine heiße Augustnacht war, hatte sie nur ein dünnes Laken genommen. Den oberen Teil hatte sie zurückgeschlagen und ein Stück Pfefferminzschokolade auf das Kopfkissen gelegt.
Eric lächelte. Obwohl sie dem Jungen nicht so recht traute und vermutlich noch böse war, weil er sich ins Haus geschlichen hatte, wollte sie es ihm doch so gemütlich wie möglich machen.
Dylan schabte mit der Schuhspitze über den Boden. „Werden Sie die Polizei rufen?“
Er war zu müde, um sich darum jetzt Gedanken zu machen. „Darüber reden wir morgen.“ Erschöpft rieb er sich das Gesicht.
Unvermittelt lief Dylan um Eric herum und flüchtete aus dem Zimmer. Als Eric die Veranda erreichte, rannte Dylan schon auf der gegenüberliegenden Straßenseite davon.
Er hätte damit rechnen müssen. Aber wahrscheinlich war der Junge dankbar für das Essen und die angebotene Schlafgelegenheit. Vermutlich hätte er sich ohnehin vor Sonnenaufgang aus dem Haus geschlichen.
Eric schloss die Tür und stieg die Treppe hinauf. Vielleicht hätte er das Fenster verriegeln sollen, aber er hatte keine Lust. Wenn Dylan sich anders besinnen sollte, würde er ohnehin einen Weg ins Haus finden.
Aus keiner der Türen im ersten Stock fiel ein Lichtschein. Eric wusste also nicht, welches Zimmer Marcy belegt
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