Eine Tankstelle fuer die Seele
Kiste mit einem geheimnisvollen Ring … daraus entspann sich eine Art Märchen, in das teilweise reale Erinnerungen eingeflochten waren. Es war phantasievoll, spannend und voller Abenteuer. Und doch konnte ich auf eine merkwürdige Weise am Ende mein Leben wiedererkennen und den roten Faden sehen. Alle Prüfungen und Enttäuschungen, die sich in der Geschichte fanden und die mich an wirkliche Lebenserfahrungen erinnerten, schienen im Märchen – und offensichtlich auch in meinem Leben – einem Plan zu folgen. Und das schien auch bei den anderen so zu sein. Jedes Märchen wirkte authentisch und irgendwie passend für die jeweilige Person. Keine der Geschichten, die von allen TeilnehmerInnen am Ende vorgelesen oder erzählt wurden, glich zu unserer Überraschung der anderen. Und trotzdem glichen sich die Märchen in Hinblick auf die handelnden Figuren. Es gab Zwerge, Elfen, Großmütter, hilfreiche Tiere usw. und in jeder Geschichte gab es die anderen, die Widersacher. Und fast immer kam die Einsamkeit vor, das verlassene Kind, die verstorbene Mutter oder Stiefmutter usw. Diese Übung verdeutlichte uns, dass wir uns hier auf kollektivem Boden befanden. Unsere eigenen Lebensgeschichten waren wie eingewoben in die anderer Menschen. Auch wenn bei jeder und jedem die Prinzessin oder der Bär eine etwas andere Rolle spielte, so hatten sie doch eine ähnliche Aussage im jeweiligen Zusammenhang des Märchens. Es gibt scheinbar etwas Verbindendes – in Freude und Leid.
Das erinnert mich daran, dass mir viele Klientinnen im Laufe der Jahre erzählten, dass sie als Kinder glaubten, adoptiert oder vertauscht worden zu sein. »Denn so böse, wie ich meine Mutter damals empfand, so böse konnte keine wirkliche Mutter sein.« Später, inzwischen selbst Mütter, schmunzelten sie manchmal, wenn ihre eigenen Kinder etwas Ähnliches äußerten. Die Märchen, in denen von der bösen Stiefmutter berichtet wird, scheinen also ein Gefühl auszudrücken, das in unserem Unbewussten als eine Art Urmuster des Empfindens schlummert: Die liebevolle Mutter kann nicht diese »böse« Seite haben, das muss eine andere, eine stiefmütterliche Frau sein.
»Der Mythos ist eine heilige Geschichte. Wer ihn erzählt, enthüllt ein Geheimnis, denn die handelnden Personen, von denen er berichtet, sind keine Menschen, sondern Götter und halbgöttliche Wesen …«, schreibt Lorenzo Ravagli in seinem Buch »Aufstieg zum Mythos«. Mythen erzählen Geschichten von der Entstehung der Welt, von den großen Kämpfen zwischen Gut und Böse, zwischen den Göttern und Dämonen, Menschen und Drachen, Fabelwesen und Naturkräften. Mythen könnten uns auch helfen, die Menschheit als Ganzes mehr zu verstehen, unser Miteinander-Verwobensein zu erkennen und Feindbilder aufzugeben. Was könnte daraus an neuen Einsichten von gegenseitiger Verantwortung entstehen, nicht nur für die Menschen am anderen Ende der Welt, sondern auch für die Tiere und Pflanzen, für die Erde als lebendigen Organismus, ja sogar für die Luft, die uns umgibt, und den Weltenraum!
Gibt es Bilder, die in Ihnen auftauchen, wenn von Mythen die Rede ist? Vielleicht kommen Ihnen die Geschichten der griechischen Götter in den Sinn, von Zeus und Hera, Aphrodite und Apollon? Vielleicht ist es die Geschichte des Odysseus und seiner großen Irrfahrt, vielleicht die Wanderschaft des Parzival auf der Suche nach dem Gral. In den Mythen geht es um den Sinnzusammenhang zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter. Die Welten von Himmel und Erde waren noch nicht getrennt, die Götter so real wie die Menschen, beides gehörte zusammen, so wie die Welle und das Meer untrennbar eins und nur von außen betrachtet verschieden sind.
Zu den beliebten Motiven der Mythen gehört der »Weg des Helden«. Der Held geht nicht in den Fußstapfen anderer, sondern sucht seinen eigenen Pfad zur Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Erst wenn er seine Prüfungen bestanden hat, wird er von den Göttern unterstützt und meistens vom Leben belohnt. Diese Heldenreisen lesen sich manchmal wie eine Anleitung zum Glücklichsein: Sie lehren Verzeihen statt Rache, Reue über eigenes Versagen, Mitgefühl, Großmut und Willensstärke. So könnten wir in den kollektiven Geschichten Hinweise für unser persönliches Handeln finden, uns sozusagen vom Helden in uns führen lassen. Auch unser Versagen und Scheitern wäre aufgehoben in diesen Geschichten, genauso wie der Schmerz des Verlustes auf dem Weg. Wir könnten
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