Eine Tankstelle fuer die Seele
lernen, nicht in Selbstmitleid zu zerfließen oder frühzeitig aufzugeben. Auch wenn die Gestalten im Lauf der Geschichte und in den unterschiedlichen Kulturen ihre äußere Form wechseln, bleibt das Wesentliche immer gleich. Moderne Helden haben Kämpfe in der Fußball-»Arena« zu bestehen, ähnlich wie die Helden Roms im Angesicht der Öffentlichkeit Wagenrennen oder Löwenkämpfe zu bestreiten hatten.
Man kann Mythen anthropologisch deuten, das heißt, man kann fragen, welche Kultur sich darin spiegelt, was die Geschichten zum Beispiel über den Stellenwert von Frauen und Männern in dieser Gesellschaft berichten oder welche sozialen Strukturen und Glaubensvorstellungen vorherrschten. Und man kann den Mythos psychologisch deuten, so wie es zum Beispiel C.G. Jung getan hat. Er sah in ihnen einen Ausdruck des kollektiven Unbewussten, der Menschen aller Zeiten gemeinsam ist und der sich in Form von Archetypen ausdrückt. Der Mythos geht immer noch ein Stück über das rational Verstehbare hinaus. Er berührt einen Bereich, dem man sich zu allen Zeiten mithilfe von Ritualen genähert hat, zum Beispiel in den Mysterienspielen der Griechen oder – wie heute noch zu erleben – im Oberammergauer Passionsspiel, das sich großer Beliebtheit erfreut. Auch wenn sein Inhalt vielen Menschen heute fast fremd ist, berührt das Ritual auf einer anderen Ebene.
C.G. Jung bezeichnete vor allem Mythen religiöser Natur als eine Art geistige Therapie für die Leiden und Ängste der Menschheit – Hunger, Tod, Krieg, Krankheit, Alter. Den Mythen lagen Erfahrungen der Menschen zugrunde, aus denen heraus sie religiöse Vorstellungen entwickelten. Es waren mystische Erfahrungen, durch tiefe Versenkung, Meditation oder Kontemplation entstanden. Auf diesem Weg begegneten Menschen aller Kulturen der großen göttlichen Mutter oder dem göttlichen Vater, dem Schöpfer des Universums oder dem göttlichen Kind. Diese Erfahrungen veränderten etwas und tun es immer noch, wenn wir uns darauf einlassen.
Ich denke dabei an mein Weihnachtsseminar, das ich seit über 20 Jahren jährlich am ersten Adventwochenende anbiete als Vorbereitung auf das Mysterium des Weihnachtsfestes. Wenn wir uns dabei in der Meditation oder während der Musikreisen auf die Geburt des Göttlichen in uns einstimmen, erleben wir das, was Jung meinte, wenn er den Mythos als »geistige Therapie« bezeichnete. Unterstützt von der Energie der Gruppe kann man sich wirklich vom Mythos ergreifen und ein Stück weit wandeln lassen, frei nach dem Dichter Angelus Silesius, der uns sagt, dass erst die Geburt des Christus in uns die wahre Bedeutung dieses Geschehens erlebbar macht. Diese Erfahrungen gehen immer über den kleinen Bereich des Realen hinaus und zeigen uns, dass es tatsächlich »mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt«.
Solche tiefen inneren Erfahrungen scheinen zu bestätigen, dass die Quelle der Mythen sowie die Quelle aller Religionen ihren Ursprung in den Tiefen unserer eigenen Seele haben. Es sind nicht nur Geschichten aus einer vergangenen Zeit, sondern ein lebendiges Geschehen, das sich in seiner archetypischen Gestalt in unserem Leben wiederholt. Der Mythenforscher Joseph Campbell, der nicht müde wurde, auf die Wichtigkeit dieser Seelenbilder in den mythologischen Erzählungen hinzuweisen, sagt dazu, »dass die Technik uns nicht retten wird. Unsere Computer, unsere Geräte, unsere Maschinen reichen nicht aus. Wir müssen uns auf unsere Intuition verlassen, unser wahres Wesen.«
Orpheus und Eurydike, ein zeitloses Paar
Einen Mythos möchte ich kurz vor Ende dieses Kapitels noch beispielhaft erzählen und Sie zu einer kleinen Reise einladen.
Es ist die Geschichte des griechischen Sängers Orpheus, der getrieben von der Sehnsucht, seine Frau Eurydike zurückzugewinnen, sogar den Weg in die Unterwelt nicht scheut. Auch diese mythische Geschichte wiederholt sich in moderner Form in meiner Praxisarbeit und in einzelnen Phasen des Prozesses findet sich sicher fast jeder Mensch wieder.
Alles begann mit einem Helden und einer großen Liebe. Dem griechischen Sänger und Musiker Orpheus, Liebling des Gottes Apoll, schien alles zuzufliegen. Mit der Lyra, die Apoll ihm, seinem Ziehsohn, geschenkt hatte, verzauberte und bewegte er selbst die Steine. Als er auch noch die schöne Nymphe Eurydike für sich gewann, schien sein Glück perfekt. Aber wie wir aus dem »richtigen« Leben wissen, bleibt selten etwas, wie es ist
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