Eine Tiefe Am Himmel
privatem Bereich? Es gab Grenzen der Geschwindigkeit, mit der Tomas gegen einen anderen Hülsenmeister vorgehen konnte. Wenn sie sich beschwerte und es auch nur die kleinste Verzögerung gab, könnte Luan wirklich sterben – und alle Beweise konnten einfach… verschwinden.
Qiwi drehte sich in ihrem Sitz, verschaffte sich einen Blick mit bloßem Auge auf die Hand. Sie war jetzt keine siebzehnhundert Meter mehr von ihr entfernt. Es würde vielleicht Tage dauern, bis sie eine derart günstige Gelegenheit wieder herbeiführen konnte.
Die gedrungene Form des Sternenschiffs war so nahe, dass sie die notdürftigen Reparatur-Schweißnähte sah und die Blasen, wo Röntgenstrahl-Feuer den Feldprojektor-Ring des Staustrahltriebwerks getroffen hatte. Qiwi kannte den Aufbau der Unsichtbaren Hand so gut wie sonst jemand bei L1; sie hatte in den Jahren der Reise hierher auf diesem Schiff gelebt, hatte es als ihr Anschauungsstück für jedes Schiffsthema in ihrer Ausbildung verwendet. Sie kannte seine blinden Flecken… Vor allem hatte sie Zugangsrechte auf Hülsenmeister-Niveau. Das war auch so eine Sache, die ihr Tomas anvertraut hatte. Bisher hatte sie noch nie derart… hm… provokativ davon Gebrauch gemacht, aber…
Qiwis Hände bewegten sich, noch ehe sie ihren Plan verstandesmäßig erfasst hatte. Sie schaltete ihre persönliche verschlüsselte Verbindung zu Tomas ein und sprach rasch, umriss, was sie erfahren hatte, welchen Verdacht sie hatte – und was sie vorhatte. Sie setzte die Botschaft ab, Zustellung beim Tod des Absenders. Jetzt würde es Tomas Nau jedenfalls erfahren, und sie hätte etwas in der Hand, womit sie Ritser drohen konnte, wenn er sie erwischte.
Sechzehnhundert Meter von der Unsichtbaren Hand entfernt. Qiwi zog den Helm herunter und ließ die Luft aus dem Taxi absaugen. Ihre Intuition und ihre Datenbrille zeigten übereinstimmend den Sprungkurs, den sie einschlagen musste, die Flugbahn, die sie den Trichter der Hand hinab führen würde, immer im blinden Fleck des Schiffs. Sie ließ die Luke des Taxis aufspringen, wartete, bis ihr akrobatischer Instinkt los sagte – und sprang in die Leere.
Qiwi arbeitete sich im Fingergang den leeren Frachtraum der Hand entlang. Mit einer Kombination von Tomas’ Autorität und ihrem speziellen Wissen war sie bis zum Wohnbereich gelangt, ohne einen sichtbaren Alarm auszulösen. Alle paar Meter legte Qiwi das Ohr an die Wand und lauschte einfach. Sie war so nahe an der Gegend der Wachhabenden, dass sie andere Leute hören konnte. Sie klangen sehr gewöhnlich, keine plötzlichen Bewegungen, keine besorgten Worte… Hmm. Das klang, als ob jemand weinte.
Qiwi bewegte sich schneller, empfand etwas wie die vibrierende Wut ihrer lange zurückliegenden Konfrontation mit Ritser Brughel – nur dass sie jetzt klüger war und dementsprechend mehr Angst hatte. Während ihrer gemeinsamen Wachen seit jenem Zwischenfall im Park hatte sie oft Ritsers Blick auf sich gespürt. Sie hatte immer erwartet, dass es noch eine Konfrontation geben würde. Ebensosehr, wie sie es tat, um das Andenken ihrer Mutter zu ehren, sollte Qiwis fanatischer Sport – all die Kampfsportarten – zur Absicherung gegen Ritser und seinen Stahlstock dienen. Das wird mir eine Menge nützen, wenn er mich mit einer Drahtpistole umlegt. Doch Ritser war so ein Idiot, er würde sie nie auf solche Art umbringen; er würde es auskosten wollen. Wenn es heute dazu kam, würde sie Zeit haben, ihm mit der Botschaft zu drohen, die sie Tomas hinterlassen hatte. Sie zwang die Furcht nieder und bewegte sich weiter auf das Weinen zu.
Qiwi schwebte über einer Eingangsluke. Plötzlich waren ihre Arme und Schultern angespannt. Seltsame, zufällige Gedanken huschten durch ihren Geist. Ich werde mich erinnern. Ich werde mich erinnern. Verrückt.
Hinter diesem Punkt würde ihre einzige Unsichtbarkeit in ihrem Hülsenmeister-Schlüssel bestehen. Höchstwahrscheinlich würde das nicht genügen. Aber ich brauche nur ein paar Sekunden. Qiwi überprüfte ein letztes Mal ihre Aufzeichnungen und die Datenverbindung… und schlüpfte durch die Luke in einen Mannschaftskorridor.
Herrgott. Einen Augenblick lang starrte Qiwi einfach nur erstaunt. Der Korridor hatte die Größe, an die sie sich erinnerte. Zehn Meter weiter bog er nach rechts zum Wohnbereich des Kapitäns ab. Doch Ritser hatte an alle vier Wände Bildtapete aufgetragen, und die Bilder zeigten eine Art wirbelndes Rosa. Die Luft stank moschusartig nach Tier. Das war
Weitere Kostenlose Bücher