Eine tödliche Erinnerung (German Edition)

"Ich bin der Bruder von Julia Wenger und war durch sie früher auch mit Melissa befreundet. Aber die tragischen Ereignisse haben uns auseinander gebracht. Es ist alles ein bisschen kompliziert, ich würde es Ihnen gern genauer erklären. Haben Sie irgendwann Zeit für mich?"
    Ich war viel zu neugierig, um das Gespräch mit ihm lange hinauszuschieben. Zum Glück war mein Arbeitstag für heute schon beendet und zu Hause wartete nur Brutus auf mich, mit dem ich seinen Abendspaziergang unternehmen würde. Aber bis dahin war noch genügend Zeit. Also bat ich ihn gleich in mein Zimmer, was ihm sehr recht zu sein schien.
    "Ich bin nicht nur mit Wissen und Billigung von Melissa hier, sondern auf ihren ausdrücklichen Wunsch", begann er zu erzählen. "Gestern haben wir uns nach langer Zeit wiedergesehen und ganz ausführlich miteinander geredet. Zum Glück hat sie mein Angebot, ihr helfen zu wollen, angenommen. Und das, obwohl sie so lange nichts von mir gehört hatte. Aber sie möchte, dass ich alles mit Ihnen und mit ihrem Anwalt abspreche. Genau das will ich jetzt tun."
    "Ich verstehe noch nicht ganz, inwiefern Sie Melissa helfen wollen", sagte ich.
    "Das liegt doch auf der Hand. Ich will denjenigen finden, der ihr nach dem Leben trachtet und damit auch den Mörder meiner Schwester."
    "Sollten Sie das nicht besser der Polizei überlassen", gab ich reserviert zu bedenken.
    "Das habe ich schon viel zu lange getan. Mit dem Ergebnis, dass meine Schwester drei Jahre nach ihrem Tod für die Polizei nur noch eine Akte ist. Die haben nie wirklich gründlich ermittelt, das ist mir leider zu spät klar geworden. Aber jetzt hat der Täter erneut zugeschlagen, wieder ist eine unbeteiligte Person gestorben. Das ist eine einmalige Chance, ihn endlich zu fassen, und diesmal bleibe ich dran."
    So ganz behagte mir sein Eifer in dieser Sache nicht. "Ich verstehe ja, dass es für sie und ihre Familie wichtig ist, dass der Tod ihrer Schwester aufgeklärt wird. Die Ungewissheit muss sehr belastend sein."
    Er lachte bitter auf. "Sie drücken das aber zahm aus. Belastend? Völlig kaputt gemacht hat das unsere Familie. Meine Mutter, die mal humorvoll und warmherzig war, ist nur noch ein hysterisches Wrack, die Ehe meiner Eltern zum Zerreißen angespannt. Wenn meine Eltern herausfinden würden, dass ich wieder Kontakt zu Melissa aufgenommen habe, dann dürfte ich mich zu Hause nie wieder blicken lassen. Ach ja, und meinen Job habe ich auch an den Nagel hängen müssen, um Zeit für meine privaten Ermittlungen zu haben."
    "Warum lehnen Ihre Eltern den Kontakt zu Melissa ab und wieso suchen Sie ihn trotzdem?"
    "Weil ich im Gegensatz zu meinen Eltern fest von Melissas Unschuld überzeugt bin. Ich würde Ihnen gern mehr darüber erzählen, wenn ich darf."
    Ich bot an, uns erst einmal einen Kaffee zu machen, was er gern annahm. Danach begann er der Reihe nach zu berichten. So erfuhr ich erstmals, wie die Freundschaft zwischen Melissa und Julia begonnen hatte.
    "Eigentlich waren die beiden ja sehr verschieden. Julia war lebhaft, immer gut drauf, ein richtiger Wirbelwind. Sie hatte auch eine Menge Freundinnen, die oft mal wechselten. Melissa dagegen war ruhig und für ihr Alter viel zu ernst, sie hatte so eine melancholische Ausstrahlung, die sie natürlich auch irgendwie interessant erscheinen ließ. Ihre Freundschaft begann, als die beiden 15 waren. Melissa suchte ein Modell für ein Portrait und hat Julia daraufhin angesprochen. Während dieser Sitzungen sind sie ins Gespräch gekommen und wurden dann richtig dicke Freundinnen. Julia hat Melissa mit zu uns nach Hause gebracht. Meine Eltern fanden sie auch nett. So kam es dann auch, dass sie Melissa mit in den Urlaub nahmen, dreimal insgesamt war sie mit der Familie in unserem Ferienhaus in Italien. Dort hat sie sich immer sehr wohl gefühlt. Sie konnte sich noch daran erinnern, auch mit ihren leiblichen Eltern in Italien gewesen zu sein. Julia hing sehr an Melissa, allerdings hat sie in der Freundschaft total den Ton angegeben, was Julia sagte, wurde gemacht. Julia war dann auch diejenige, die sich schließlich zurückzog."
    Ich fragte nach den Gründen für den Rückzug und Tobias zuckte resigniert mit den Schultern. "Ein Typ, auf den es Julia abgesehen hatte, was sonst. Julia hatte ständig Freunde, es war aber nie besonders ernst. Melissa zeigte dagegen überhaupt kein Interesse an Jungen, es wurde schon getuschelt, dass sie vielleicht lesbisch wäre. Allerdings musste Julia die Erfahrung machen,