Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
kritischer Punkt war die lange Ohnmacht von Melissa, für die es keine Zeugen gab. So konnte man ihr unterstellen mit dem Notruf gewartet zu haben, bis sie relativ sicher sein konnte, dass für ihre Rivalin jede Hilfe zu spät kommen würde. Ihre Stirnwunde stellte sich als unerheblich heraus, sie hatte nicht einmal eine Gehirnerschütterung davongetragen. Von dem Gift hatte sie nichts zu sich genommen, Rückstände fanden sich lediglich im Glas von Frau Tietze-Mühlberger, jedoch weder in Melissas Glas noch in der Karaffe.
Für Johannes war der Tathergang eindeutig: "Der Täter hat Melissa seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen beobachtet, dazu hat er auch das Versteck in der Hecke genutzt. Er hat ihre Gewohnheit, auf der Terrasse zu sitzen und dabei etwas zu trinken, ausgekundschaftet. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit hat er sie mit dem fingierten Anruf ins Haus gelockt und das Gift in ihr Glas geschüttet. Das Glas war dazu bestens geeignet." Johannes zeigte mir ein schönes, antikes Glas. "Das ist das gleiche wie das, aus dem Frau Tietze-Mühlberger getrunken hat, Melissa hat es mir gegeben."
Bei der Nennung von Melissas Namen bemerkte ich ein leichtes Vibrieren in seiner Stimme. Die beiden duzten sich auf Wunsch von Melissa mittlerweile, das entsprang ihrem ausgeprägten Wunsch nach Nähe, während bei ihm wohl noch andere Gefühle im Spiel waren. Ich betrachtete das Glas aufmerksam. Es handelte sich um einen Kelch aus dünnem, leicht opalisierenden Glas. Der Fuß bestand aus drei sich nach oben hin verjüngenden Ringen und einer Kugel, die innen hohl war.
"Wenn du eine farblose Flüssigkeit in diese Kugel füllst, ist das kaum zu erkennen", bemerkte Johannes. "Das kam dem Täter entgegen. Melissa hat nicht gesehen, dass sich etwas in dem Glas befand, noch dazu, weil es sich nur um ein paar Tropfen gehandelt haben muss. Das Gift in die Karaffe zu tun wäre natürlich auch gegangen, dann hätte man aber eine größere Menge benötigt."
"Der Täter hatte natürlich keinen Einfluss auf die Auswahl des Glases", bemerkte ich nachdenklich, "Melissa dagegen schon."
Johannes sah mich erstaunt und fast ein wenig verärgert an. "Gut", sagte er dann, "spiel ruhig mal den Advocatus Diaboli. Was spricht alles für Melissa als Täterin?"
"Zunächst natürlich das durchaus vorhandene Motiv. Nehmen wir einmal an, sie war gar nicht so ahnungslos wie sie tut und sie wusste durchaus von den Bestrebungen der Ehefrau ihres Geliebten, die Beziehung zu unterlaufen. Professor Tietze-Mühlberger war nicht nur ihre wichtigste Bezugsperson, er war sogar die einzige. Ihn durfte sie nicht verlieren.
Nehmen wir weiter an, die Ehefrau kam nicht wie behauptet völlig unangemeldet und überraschend vorbei, sondern es bestand eine Verabredung, von der lediglich niemand außer den beiden Frauen wusste. Dann hätte Melissa sich darauf vorbereiten können. Sie hätte sich das Handy besorgt und kurz vor dem Eintreffen ihrer Rivalin selbst den Anruf fingiert. Dann hätte sie Frau Tietze-Mühlberger auf die Terrasse geführt und ihr und sich selbst Tee eingegossen, dabei das mit dem Gift präparierte Glas ihr gereicht. Dann musste sie nur noch die offenbar sehr schnell eintretende Wirkung abwarten. Um ganz sicher zu gehen, rief sie den Notarzt mit über einer Stunde Verspätung und begründete das mit einer Ohnmacht. Die kleine Wunde, die das glaubhafter machen sollte, fügte sie sich selbst zu."
"Und der Anruf der Vermieterin?"
"Ist tatsächlich so erfolgt, war für ihren Plan aber nicht notwendig."
Johannes kaute auf seiner Unterlippe herum. "Zu schade, dass die Vermieterin von ihrer Wohnung aus die Terrasse nicht einsehen kann. Sonst könnte sie die Version von Melissa bestätigen."
"Wenn die Terrasse von oben einsehbar wäre, hätte Melissa bestimmt nicht so häufig dort gesessen. Es reicht wirklich aus, dass Frau Steffen den Hauseingang überwacht."
"Wenn Deine Version stimmen würde, wäre Melissa eine Doppelmörderin, dann hätte sie auch ihre Freundin auf dem Gewissen."
"Und sie wäre beide Male nach dem gleichen Muster vorgegangen, sozusagen nach dem Schneewittchenprinzip."
"Nach welchem Prinzip?", Johannes schaute mich verdattert an. "Habe ich da in meiner Ausbildung irgend etwas verpasst?"
Ich musste lachen. "Nein, hast du nicht. Das ist mir nur gerade so in den Sinn gekommen. In dem Märchen bietet doch die böse Stiefmutter dem Schneewittchen einen Apfel an, der nur zu einer Hälfte vergiftet ist. Dadurch ist
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