Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
kommentierte. "Was soll er machen? Immerhin hat er seine Frau verloren. Es würde doch seltsam aussehen, wenn er jetzt einen engen Kontakt mit der Geliebten pflegt."
Ich dachte bei mir, dass sein Verhalten auch so seltsam wirkte, fast als würde er Melissa verdächtigen; doch sprach ich das natürlich nicht aus. Melissa schien sich mehr und mehr auf die Vergangenheit zu konzentrieren. Die bedrohliche Vision des Turmes wurde bei ihr zu einer fixen Idee, um die ihre Gedanken ständig kreisten. Auch mit Johannes hatte sie inzwischen darüber geredet, so dass er mich schließlich daraufhin ansprach.
"Ich wollte dich eigentlich schon längst danach fragen", sagte er. "Was hat dieser Turm deiner Meinung nach zu bedeuten?"
"Das kann ich dir so genau auch nicht sagen. Es gab vermutlich ein traumatisches Erlebnis in Melissas Kindheit, welches mit diesem Turm im Zusammenhang steht. Aber nicht einmal das ist sicher. Es muss keine tatsächliche Verbindung zwischen dem Turm und dem fraglichen Ereignis geben. Es reicht, wenn sie in Melissas Vorstellung existiert. Kinder nehmen die Welt anders als Erwachsene wahr und sehen daher oft Zusammenhänge, wo in Wirklichkeit keine sind."
"Bei unserem ersten Gespräch mit Melissa, damals im Krankenhaus, hat sie etwas Merkwürdiges gesagt. Sie meinte, als sie früh beim Malen war, sei sie plötzlich in Trance geraten und habe sich im Inneren eines Turmes gesehen. Funktioniert so etwas wirklich, ich meine, kann man sich selbst hypnotisieren?"
"Ja, natürlich funktioniert das. Es gibt sogar Techniken, mit deren Hilfe man Selbsthypnose erlernen kann. Das ist zum Beispiel für Patienten mit chronischen Schmerzen sehr sinnvoll. Sie können sich dadurch im Bedarfsfalle Linderung verschaffen."
"Aber bei Melissa ist es doch ganz spontan passiert, ohne dass sie es gewollt hat. Es hat ihr sogar Angst gemacht."
"Melissa ist hoch sensibel und sehr leicht hypnotisierbar. Durch die Therapie hat sie Erfahrung mit Trancezuständen, sie treten bei ihr nun schneller und leichter ein. Das ist eigentlich überhaupt nichts Besonderes, ich möchte behaupten, fast jeder Mensch hat schon mal spontan eine Trance erlebt, ohne dass sie ihm als solche bewusst geworden ist. Vom Phänomen der Autobahnhypnose hast du doch sicher schon gehört. Da fährt man ganz entspannt seinem Ziel entgegen, konzentriert sich auf den Anblick des weißen Mittelstreifens und muss plötzlich feststellen, dass die Ausfahrt, die man eigentlich nehmen wollte, bereits viele Kilometer zurück liegt." Ich hätte auch ein anderes Beispiel anführen können, nämlich Johannes' ersten Eindruck von Melissa, der ja offensichtlich ebenfalls bewirkt hatte, dass er für die Umgebung einen Moment lang nicht voll erreichbar gewesen war. Johannes überlegte immer noch."Und dieses Gefühl von ihr, sich in dem Turm zu befinden ... "
"War eine Art kurzer Tagtraum und ebenfalls nicht ungewöhnlich, auch wenn es ihr in dem Moment sicher unheimlich war."
"Kann es sein", Johannes druckste ein bisschen herum und suchte nach den richtigen Worten, "dass solche Trancezustände das Denken und Handeln beeinflussen?"
Ich hob abwehrend die Hand. "Jetzt komm du mir bitte nicht auch noch mit dem Mord unter Hypnose, der ist definitiv nicht möglich."
"Nein, nein", beeilte sich Johannes zu versichern, "ich will ja nur auf alles vorbereitet sein. Könnte man vielleicht Melissas Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen?"
"Nicht einmal das, jedenfalls nicht aus diesem Grunde."
Johannes schien erleichtert, aber nicht glücklich. "Wir brauchen dringend einen neuen Ansatz", seufzte er. Der sollte sich schon bald aus einer unerwarteten Richtung ergeben.
35.
Ruth kam in mein Zimmer und lächelte mich strahlend an. "Zieh nicht so ein finsteres Gesicht. Draußen ist jemand, der ausdrücklich zu dir möchte, und zwar privat." Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, von wem die Rede sein könnte. Der junge Mann, der in der Diele auf mich wartete, machte einen sehr sympathischen Eindruck. Er war groß, schlank und hatte dunkelbraunes, lockiges Haar. In seinem Gesicht fielen sofort die lebhaften braunen Augen und sein gewinnendes Lächeln auf.
"Ich bin Tobias Wenger", sagte er, "und Sie müssen Iris Forster sein. Melissa hat mir schon viel von Ihnen erzählt."
Bei der Nennung des Namens stutzte ich. Wenger? War er etwa mit der jungen Frau verwandt, die in Dahrenried vergiftet worden war? Seine nächsten Worte bestätigten meine Vermutung.
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