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Eine Trillion Euro

Titel: Eine Trillion Euro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eschbach Andreas
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dann würde der Spuk nicht mehr auffallen. Henrietta findet, dass jemand, der mit einer solchen Idee aufwarten kann, offensichtlich ein Genie ist.
    Henry will sich zu viel anmaßen, wie immer. Da Albin Satan getrotzt hat und infolgedessen in die Geschichte der Raketenfabrikstraße eingegangen ist, muss Henry etwas noch viel Schrecklicheres und Wunderbareres finden. Er entscheidet sich, an die Tür des Spukhauses zu klopfen.
    Man mag so manches über Spukhäuser reden hören, aber man sollte nicht meinen, das Spukhaus in der Raketenfabrikstraße 1 wäre so ein baufälliger, verlassener Klotz, wie es in fast jedem Viertel einen gibt und dem nur zum Spaß oder um die Kinder zu ängstigen ein Spuk nachgesagt wird. Das verwilderte Gartengrundstück am oberen Ende der Straße ist, abgesehen von einem verfallenen Schuppen, unbebaut gewesen, bis das Spukhaus darauf erschien. Und es steht noch leer, die meiste Zeit. Das Haus kommt, und das Haus geht, und das ist es, was es zu einem Spukhaus macht. Einen Moment sieht man hin, und das letzte Grundstück der Straße ist ein unbebautes Grundstück mit wilden Apfelbäumen, Johannisbeersträuchern, Nesseln und Gras. Im nächsten Moment kann es sein, dass man ein großes weißes Haus sieht, das in der Mitte des Gartens steht, als wäre es schon immer da gewesen. Und dann, nach ein paar Augenaufschlägen, ist es wieder verschwunden.
    Zum ersten Mal taucht das Spukhaus ein paar Tage oder höchstens zwei Wochen vor Henriettas Mutprobe auf – es ist schwer, ein genaues Datum zu nennen, da eigentlich keiner die Tage zählt. Das ist immer so, wenn die Schultore geschlossen sind und die Farbe an den Häuserwänden sich unter der Hitze wellt und eine schläfrige Sonne mit langsamen gelben Stößen über einen schaumig weißen Himmel schwimmt. Eines heißen Tages läuft jemand an dem Grundstück vorbei, reibt sich die Augen, bleibt mit offenem Mund stehen und wagt dann, seine Kameraden zu fragen, ob sie dasselbe sehen wie er, ein großes weißes Haus, das sich in der Mitte des üppig wuchernden Gartens erhebt, als hätte es schon immer dort gestanden.
    Zweifellos ist es ein echtes Spukhaus, wenn auch nicht von der gewöhnlichen Art. Das Haus selbst ist ein Geist, was die Kinder, die über den Fall nachdenken, aus der Fassung bringt. Spuk ist für sie im Allgemeinen ohne Ausnahme mit Tod verbunden, in der einen oder anderen Form. Auf welche Weise ist der Tod dann mit diesem Haus verbunden? Ist das Haus tot? Und wenn ja, wie ist das möglich, wenn Häuser wenigstens nach landläufiger Meinung weder geboren werden noch leben und darum auch nicht sterben?
    Wie auch immer: kein Sterbenswörtchen über das Haus zu den Erwachsenen, nicht einmal, wenn sie eine gute Erklärung für den Spuk hätten. Es wird einstimmig beschlossen, die Eltern völlig im Dunkeln zu lassen, und feierlich erklärt, dass jede Petze, die gegen diese Entscheidung verstößt, in den Hof des Metzgers geschubst wird, um von Satan zerkaut zu werden.
    Um der Wahrheit gerecht zu werden, muss man sagen, dass, wenn einer so dumm wäre, bei seinen Eltern über das Haus etwas auszuplaudern, sie wahrscheinlich ohnehin kein Wort glauben würden, wie Erwachsene überhaupt nie etwas glauben, was ihre Kinder ihnen erzählen, außer wenn es um ganz gewöhnliche und unwichtige Dinge geht.
    Falls aber irgendwelche Eltern diesmal zufällig aus irgendeinem Grund darauf hören sollten, was ihre Kinder plappern, und das Gerede über das Spukhaus ernst nehmen, wäre die einzig mögliche Konsequenz, dass es allen Kindern in der Raketenfabrikstraße strikt verboten würde, auch nur in die Nähe von Haus Nr. 1 zu kommen, unter Androhung harter Strafen. In diesem Licht besehen ist es nur natürlich, dass der Spuk dieses Hauses vor den Eltern geheim gehalten wird. Das ist keineswegs besonders schwierig, da alle Erwachsenen jetzt die schönste Zeit des Tages bei der Arbeit in der Fabrik verbringen und diesen großen, sehr wichtigen Auftrag ausführen.
    Ein paar Abende vor Henriettas Nervenprobe – doch es können auch ein paar Wochen gewesen sein, da man es kaum genau sagen kann und es im Grunde auch gar nicht wichtig ist – warten sie alle am Zaun, ob das Spukhaus erscheint. Henry hat gesagt, er wird tun, was noch nie einer vor ihm getan hat, aber keiner der Wartenden glaubt, dass Henry der Aufschneider wirklich wagt, an die Tür des Spukhauses zu klopfen, Henry am allerwenigsten. Aber die große Verpflichtung ist die große Verpflichtung, und

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