Eine Trillion Euro
umzusehen. Und warum auch nicht? Sie hat schon so schreckliche Angst, dass sie sich keinen Deut mehr fürchten könnte als jetzt, also kann sie ihre Erforschung ebenso gut fortsetzen.
Sie späht durch die nächste offene Tür.
Die seltsame Wirklichkeit ist schwer zu fassen, und sie ringt darum, die flüchtenden Linien und Formen zu begreifen, bis ihr der Kopf schmerzt. Der Türsturz reicht bis zu den Sternen hinauf, sie kann ihn nicht einmal mehr sehen.
Ich sollte jetzt gehen, denkt sie und schleicht sich doch tiefer ins Haus, zum Innersten seines Geheimnisses.
Sie spürt unter den Füßen, wie sich die Maserung der Bodendielen vertieft und sich windet und zu klar verständlichen Mustern formt.
Tausende Gerüche prasseln auf ihre wundervoll empfindliche Nase ein, aber die Farben sind verschwunden, haben sich zu Millionen Grautönen gewandelt.
Geräusche prasseln auf ihre Ohren ein und sausen rumpelnd durch die überlasteten Nervenbahnen ihres Gehirns. Sie hört das Holz unter einem fremden Schritt knarren. Sie spürt neben ihrem eigenen wilden Herzticken das hämmernde Klopfen zweier anderer Herzen, die viel langsamer schlagen als ihres. Sie hört einen Atem brausen wie einen Zugwind im Eisenbahntunnel.
Am Fenster steht eine Gestalt, ein junges Mädchen, sie dreht sich um, langsam wie im Traum, und sieht sie an, lächelt, spricht ein Wort, das ein hohler Riss im Himmel ist, und holt mit dem schweren Arm zu einer langsamen Begrüßung aus.
Der kleine Eindringling versucht vergebens, in seinem schaudernden Verstand den schwindelerregenden Tanz der Proportionen in eine gewisse Ordnung zu bringen, versucht vergebens, sich wenigstens an den eigenen Namen zu entsinnen, aber den hat er irgendwo auf dem Weg zurückgelassen und vielleicht auf Nimmerwiederhören verloren …
Etwas noch Kolossaleres als die Mädchenstatue schiebt sich wiegend in das Blickfeld des Eindringlings, und ein Impuls reiner Selbsterhaltung schießt durch sein Nervensystem und zwingt ihn nun endlich zu gehen, aus dem Haus zu rennen, so schnell der stechende Schmerz, der ihr krankes Bein lähmt, es erlaubt.
»Henrietta!«, ruft Albin entsetzt und erleichtert zugleich und hilft ihr über den Zaun.
Henrietta zittert und schluchzt und versucht verzweifelt, ihre verworrenen Gedanken zu ordnen. Der Junge gratuliert ihr und küsst sie plötzlich mitten auf den Mund. Henrietta ist noch nicht so weit, um richtig zu begreifen, was passiert. Sie ist noch nicht einmal so weit, dass sie sich auf ihren Namen besinnen kann, da rennen sie schon alle die Raketenfabrikstraße hinunter, Max und Henry voran und Albin hinter ihnen her, der Henrietta mit sich zieht. Die betäubte Henrietta wirft einen hastigen Blick über die Schulter. Das Haus ist wieder verschwunden, überlässt den Garten dem Frieden seines schattigen Pflanzendaseins.
Wäre auch sie verschwunden, wenn sie noch einen Moment länger drinnen geblieben wäre? Henrietta denkt kurz darüber nach, dann vergisst sie den Einfall und errötet über das ganze Gesicht, weil sie endlich spürt, wie ihr der Kuss noch auf den Lippen brennt. Lieber Gott, das war ihr erster Kuss! Und der Junge hält sie noch immer bei der Hand! Oh, Allmächtiger!
Hölzerne Einfamilienhäuser stehen in einer Reihe an der Straße, die meisten gehören der Fabrik, der Fabrikbesitzer hat sie bauen lassen. Die Häuser verfolgen die rennenden Kinder mit Gleichmut, schützen mürrisch ihre grünen Vorgärten mit leuchtend bunten Zäunen. Irgendwo kläfft ein Hund. Die Kinderfüße werfen eine Staubschleppe in die Luft, die der warme Sommerwind zuverlässig, aber ein wenig lustlos wegzufegen beginnt. Noch verweilt der denkbar schönste Sommertag in der Raketenfabrikstraße, doch schon mit einem Quäntchen Sehnsucht nach wohltuender Herbstkühle.
»Seht!«, schreit Max, bleibt abrupt stehen und zeigt mit ausgestrecktem Arm. »Mensch, sie kommen alle aus der Fabrik!«
»Der Auftrag ist erledigt«, sagt Albin.
Die Kinder bleiben stehen, wo sie sind, erwartungsvoll, überrascht und nervös. Der Hund bellt lauter denn je und verstummt dann, alles vergessend.
»Der Auftrag ist erledigt«, wiederholt Albin grimmig, und eine entschiedene Endgültigkeit schwingt in den Worten mit.
Keines der Kinder kann es sich erklären, aber ihre energische Anspannung ist verschwunden, und die dunklen Winde von Melancholie und Sehnsucht nach Vergangenem wehen über sie hinweg. Als hätte Albin gesagt, es werde nie wieder Sommer. Aber er hat gar nichts
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