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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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einer Station stieg ein Reisender in ihr Abteil, der ein wenig Englisch sprach; nun endlich konnten die anderen Mitfahrenden, die es längst aufgegeben hatten, ihr in Zeichensprache Fragen zu stellen, ihre Neugier stillen. Der neue Fahrgast war ein freundlicher Mann. Er übersetzte für Gladys, was ihr der Zugführer, der die Fahrkarten kontrolliert hatte, sagen wollte: daß keine Züge nach Charbin weitergingen, so daß sie wahrscheinlich an der sibirisch-mandschurischen Grenze hängenbleiben würde. Wenn dies sich so verhielt — aber sie konzentrierte ihren ganzen Willen darauf, es nicht zu glauben —, dann gab es keine Möglichkeit mehr, über Charbin nach Dairen weiterzukommen und mit dem Dampfer nach Tientsin zu gelangen.
    Diese Befürchtungen verdichteten sich aber, da an jeder Station mehr Militär in den bereits überfüllten Zug drängte. Zwei Offiziere nahmen jetzt in ihrem Abteil Platz; wenn sie sich auch nur durch Zeichensprache mit ihr verständigen konnten, so waren sie doch angenehme Fahrtgenossen. In Tschita verließen sämtliche Zivilisten den Zug, außer Gladys. Der Zugführer kam herein und versuchte mit phantasievollen Verrenkungen, Gladys zum Aussteigen zu bewegen. Aber Gladys, als ob sie festgewachsen wäre in ihrem Abteil, wollte nichts hören, nichts sehen, nichts verstehen. Sie blieb dabei, daß jeder Kilometer vorwärts sie eben einen Kilometer näher an China heranbrachte. Sie blieb sitzen.
    Der Zug nahm nochmals Soldaten auf und rumpelte weiter. Später in der Nacht hielt er auf einem kleinen Bahnhof. Die Soldaten stiegen aus, traten auf dem Bahnsteig in Reih und Glied an und marschierten ab, an den Gleisen entlang in die Dunkelheit. Ohne Licht ging jetzt die Fahrt weiter. Bei einem kurzen Gang durch die dunklen Wagen stellte Gladys fest, daß sie der einzige Fahrgast war. Mit dem leichten Frostwind drang jetzt ein neues Geräusch zu ihr. Sie erkannte es sofort, obgleich sie es noch nie gehört hatte. Artilleriefeuer! Rollend, unheimlich, beängstigend! Durch das geöffnete Fenster sah sie in der Ferne vor dem schwarzen Nachthimmel das Mündungsfeuer der Geschütze blitzen. Hastig packte sie ihre Habe zusammen. Der ältliche Angestellte bei »Millers« hatte wohl doch recht gehabt, stellte sie etwas betreten fest. Einen Augenblick lang sah sie ihn deutlich vor sich, wie er sie über den Tisch hinweg streng anblickte und kopfschüttelnd sagte: »Aber ich erklärte Ihnen doch eben, meine Dame, daß wir unsere Kunden nicht gern tot ans Ziel befördern...«
    Plötzlich hielt der Zug. Gladys zögerte nicht lange. Schwer beladen mit Koffern und Pelzdecke ging sie den Bahnsteig entlang bis zu einer kleinen Hütte, in der schon vier Personen um den prasselnden Ofen kauerten: Lokführer, Heizer, Bahnhofsvorsteher und jener Zugführer, der ohne Erfolg versucht hatte, sie in Tschita zum Aussteigen zu bewegen. Sie schenkten ihr eine Tasse starken Kaffee ein und machten ihr in fließendem Russisch, unterstützt durch ausgiebige gymnastische Bemühungen, klar, daß sie nun am Ende der Bahnlinie angekommen sei. Dahinter lag nur noch das Schlachtfeld.
    Dieser Krieg ohne Kriegserklärung, der zwischen Rußland und China um den Besitz der Ostchinesischen Eisenbahn entbrannt war, wurde von der westlichen Presse kaum beachtet. Er dauerte einige Monate und brachte schwere Verluste; schließlich zogen die Chinesen ihre Streitkräfte zurück.
    Der Zug aber — das erklärten die vier Männer Gladys — blieb wahrscheinlich tagelang, wenn nicht wochenlang, hier stehen, um dann zur Stelle zu sein, wenn Verwundete in die Lazarette hinter der Front transportiert werden mußten. Sie zeigten mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung der Gleise, aus der sie gekommen waren: »Gehen Sie zurück.«
    Die Schienen wanden sich verlassen zwischen den schneebedeckten Tannen. Manchmal verschwanden sie in einem dunklen Tunnel, dann wieder kletterten sie langgestreckte Hänge hinauf. Der Schnee zwischen den Bahnschwellen lag dick und weich. Eiszapfen hingen von den Tannen herab. Trotzdem war der Weg nach Tschita (dabei blieben die Männer) für Gladys die einzige Hoffnung. So hatte sie sich also auf den Weg gemacht, eine schmale, an Charlie Chaplin erinnernde Figur: über den Schultern die alte Pelzdecke und in jeder Hand einen Koffer — an denen noch immer unternehmungslustig der Wasserkessel und die Bratpfanne klapperten. Der sibirische Wind wirbelte den Pulverschnee um ihre Füße, als sie winzig und in tiefster

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