Eine unbegabte Frau
wenige andere glückliche Erinnerungen waren es, die die Japaner zurückließen. Wenn sie nach ihren Siegen in die Garnison von Tsechow zurückkehrten, erhielten die Truppen drei Urlaubstage. Die Stadttore wurden geschlossen. Die Orgien und Ausschweifungen in diesen Nächten hätten jeden mittelalterlichen Eroberer beschämt.
Nicht lange vor David Davis’ Reise an die Küste hatte sich jene furchtbare Szene abgespielt, die Gladys nie vergessen konnte und die ihr die Verletzungen beibrachte, unter denen sie noch jahrelang zu leiden hatte. Das Missionsgelände war groß und unübersichtlich; Männerhof und Frauenhof lagen weit auseinander. Die Familie Davis wohnte nahe dem Männerhof, und Gladys, wenn sie in Tsechow zu Besuch weilte, in nächster Nähe des Frauenhofs. Sie war deshalb die erste, die die Schreie und Rufe hörte, als ein Trupp japanischer Soldaten und Offiziere die Türen der Frauenräume rund um den Hof einzuschlagen begann. Mindestens hundert Personen hatten in der Mission Unterkunft gefunden, Flüchtlinge, getaufte und ungetaufte Obdachlose aus den Dörfern ringsum. Gladys war noch auf, obgleich es fast Mitternacht war, und eilte hinaus, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten hatte.
Als sie in den Hof einbog, sah sie ein japanischer Offizier, er schrie einem Soldaten, der mit dem Gewehr im Anschlag dastand, ein kurzes Kommando zu. Wortlos hob der Soldat den Gewehrkolben und ließ ihn auf Gladys’ Kopf niedersausen. Sie stürzte hin, halb bewußtlos, und fühlte, wie der Kolben noch einige Male in ihren Körper hineinstieß, spürte, wie die Soldatenstiefel sie bearbeiteten, bis dunkle schwindelnde Bewußtlosigkeit sie umfing. Als David Davis, der den Tumult gehört hatte, den Frauenhof erreichte, lag Gladys wie ein schlaffes Bündel Lumpen am Boden.
Entsetzt starrte David auf die Szene. Mehr als dreißig bewaffnete Japaner, auf Raub und Vergewaltigung aus, und schreiende, sich widersetzende Frauen, kaum bekleidet, bildeten ein wirres Durcheinander. Hier eingreifen zu wollen, war ein Spiel mit dem Leben, aber Davis zögerte nicht eine Sekunde. Daß er, wenn er unbewaffnet gegen dreißig Soldaten vorgehen wollte, ein verlorener Mann war, lag auf der Hand. In diesem Moment aber kam es darauf an, Ausschreitungen zu verhüten. Instinktiv tat er den hier wohl einzig möglichen Schritt:
»Betet!« rief er den Frauen zu. Seine Stimme spannte sich in verzweifelter Kraft und übertönte den Lärm des Überfalls: »Betet alle!«
Der japanische Offizier drehte sich blitzschnell zu ihm herum, ein wilder Fluch zischte zwischen seinen dünnen Lippen hervor, als er den Revolver zog, kurz zielte und abdrückte. Sein waffenloser Gegner war aus dieser Nähe nicht zu verfehlen! David hörte das »Klick« der Auslösung, das »Klick-Klick-Klick«, als der Offizier den Hahn wütend immer wieder zurückriß. Ob keine der Kugeln traf, ob die Pistole eine Ladehemmung hatte, ob sie überhaupt ungeladen war — , David Davis wußte es nicht. Er blieb unverletzt. Fluchend änderte der Offizier seinen Griff, drehte den Revolver um, und ein mit brutaler Kraft geführter Schlag zerschmetterte David Davis’ Mund und Wange. Er sank zu Boden, und der Offizier wandte sich wieder dem Frauenhause zu. Doch schon nach wenigen Sekunden brachte sich Davis taumelnd wie ein niedergeschlagener Boxer langsam auf die Knie. Blut rann über seine Jacke, der fade, warme Eisengeschmack drang in seinen Mund, als er mühsam die Lippen öffnete und rief: »Betet! Betet alle!«
Alle Frauen und Mädchen warfen sich auf die Knie, falteten die Hände und beteten laut. Der Anblick war so seltsam und packend, daß er auch dem Wildesten Einhalt gebot. Die japanischen Soldaten, die durch David Davis’ Auftreten von den Frauen abgelenkt worden waren, blickten verdutzt und wußten nicht recht, was sie tun sollten. Der Offizier brüllte ihnen etwas zu, doch blieben sie betreten stehen. Nach einem zweiten Befehl erst wandten sie sich ab und schlenderten hinaus aus dem Hof; der Offizier schritt würdevoll hinterdrein. Eine Frau lief hin und schloß das Tor; die meisten Mädchen weinten im Übermaß des Gefühls, befreit zu sein.
David Davis erhob sich von den Knien. Die Frauen trugen Gladys ins Haus und brachten sie mit kalten Kompressen langsam zum Bewußtsein. Am nächsten Morgen stand sie schon wieder auf, fühlte sich zerschlagen und wund und konnte sich an das Geschehene kaum noch erinnern. Obgleich sie monatelang unter Schwächezuständen und
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