Eine unbegabte Frau
quälenden inneren Schmerzen litt, ließ sie sich dadurch in ihrer Arbeit nicht stören. Während Davids Abwesenheit setzte sie ihre Besuche in Yang Cheng und allen einsamen Bergdörfern fort, in denen sie begonnen hatte, kleine christliche Gemeinschaften zu gründen. Im chinesischen Kalender war kein Sonntag vorgesehen, und so bildete sich die Gewohnheit heraus, den Tag von Gladys’ Ankunft als Sonntag zu feiern. Dann wurden Choräle gesungen, und alle vereinten sich im gemeinsamen Gebet. In den kleinen Dörfern hoch oben in den Bergen spürte man nicht viel vom Näherrücken des Krieges; nur wenig Nachrichten waren bis hierher durchgesickert. Aber in den Orten näher bei Tsechow trafen die Menschen Vorbereitungen für die Flucht — die Bündel lagen gepackt und griffbereit, Kranke und Verwundete mußten gepflegt werden.
Im Frühling gab es schwere Gefechte rund um Tsechow. Die Nationalisten warfen starke Kräfte in die Schlacht, und die Japaner, die sich plötzlich in jedem Dorf und auf jeder Versorgungslinie angegriffen sahen, zogen sich in Richtung Luan zurück. Nationalistische Truppen rückten jetzt in die Stadt ein. Zwei oder drei Wochen danach kam die Bibelfrau, Chung Rumai, in die Mission gelaufen, um zu melden, daß vier vornehme Herren um eine Unterredung mit Gladys bäten.
»Wer sind sie?« verlangte Gladys zu wissen. Sie dachte an David Davis’ Warnung, daß auf alle Fälle die Neutralität der Mission gewahrt werden müsse.
»Es sind führende Nationalisten«, gab die Bibelfrau Auskunft.
»Also laß sie wieder gehen. Sie dürfen nicht hier hereinkommen.«
Die Bibelfrau verschwand, kam aber nach einigen Minuten zurück: die Besucher wünschten Gladys zu sprechen. »Sie müssen sie wohl empfangen«, sagte sie. »Sie wollen hier irgendwo bleiben.«
»Wenn sie glauben, daß wir sie hier in unserer Mission aufnehmen können, dann sind sie verrückt«, entgegnete Gladys erregt.
»Es sind einflußreiche Leute«, sagte Chung Rumai.
»Oh, wirklich? Das werden wir bald sehen.« Sie eilte zur Tür hinaus zu ihren Besuchern.
Die vier Herren in Zivilkleidung hatten inzwischen auch ohne Erlaubnis das Missionsgelände überquert und standen bereits vor der Haustür. Sie waren jung, und irgendwie schienen sie sich von den anderen Menschen, mit denen ihr Leben in China sie bisher zusammengeführt hatte, zu unterscheiden. Die vier verbeugten sich und grüßten Gladys mit dem höflichen Zeremoniell, das in China jedes Zusammentreffen einleitet. Schroff fuhr Gladys sie an: »Es tut mir leid, aber Sie dürfen hier nicht eintreten. Dies ist Missionsgelände, und wir müssen unsere Neutralität wahren. Sie müssen das Grundstück sofort verlassen.«
Der Führer der vier war ein junger Chinese, dessen natürliche Würde sie an die Haltung des Mandarins erinnerte — des einzigen Menschen von persönlicher Würde, dem sie bisher in China begegnet war. Diese aufrechte Gestalt, dieses beherrschte Gesicht drückten eine Autorität aus, die sie bei chinesischen Menschen nur selten gefunden hatte.
»Es war nickt unsere Absicht, Ihnen lästig zu fallen«, sagte er. »Wir glaubten, Sie könnten uns helfen.«
Gladys sah ihn zornig an. »Wie können Sie von mir Beistand erwarten? Sie führen Krieg! Und dieses Land gehört Gott! Wollen Sie uns bitte verlassen!«
Der junge Mann neigte ein wenig den Kopf, und seine Begleiter wandten sich dem Ausgang zu. Gladys fiel das dunkle glänzende Haar über der hohen blassen Stirn auf, die dunklen langgeschlitzten Augen unter schwarzen Augenbrauen, die klare, goldfarbige Haut und die enganliegenden Ohren an dem gut geformten Kopf.
Er sagte ruhig: »Es tut uns wirklich sehr leid, Ihr Mißfallen zu erregen, aber als wir in Chunking waren, riet uns der Generalissimus: >Wenn Sie jemand brauchen, dem Sie vertrauen können — dann wenden Sie sich an die christliche Mission.<«
Gladys warf ihm einen scharfen Blick zu: »Was haben Sie mit dem Generalissimus zu tun?«
»Wir sind seine Repräsentanten. — Wir glaubten, Sie ständen auf der Seite Chinas.«
Der sanfte Vorwurf in seiner ruhigen Stimme war nicht zu überhören; er verwirrte Gladys ein wenig. Einen Augenblick zögerte sie: »Vielleicht sprechen wir doch besser drinnen weiter — wenn die anderen Herren draußen warten können.«
Er lächelte. »Danke sehr.« Die Begleiter entfernten sich durch das Tor.
Als sie sich in der Mission gegenübersaßen, erklärte er ihr, daß sie zum Nachrichtendienst Tschiang Kai-scheks
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