Eine unbegabte Frau
gehörten. »Die Situation in Schansi ist verwickelt, und wir haben den Auftrag, zu erforschen, was hier eigentlich vor sich geht. Für die Verteidigung Chinas ist es ein lebenswichtiges Gebiet, und wenn wir irgendwo die Schärfe der japanischen Attacken abstumpfen können, dann wäre es gerade hier, wo das Terrain dem besser ausgerüsteten Feind wenig Hilfe bietet, wo Verbindungslinien leicht abzuschneiden sind und wo am Fuß der Berge der Gelbe Fluß eine mächtige Barriere bildet.«
»Die Lust, die Berge zu erobern«, fuhr er fort, »könnte den Japanern leicht vergehen, wenn man kleine, aber qualifizierte Einheiten hierherverlegen würde, die von der vorteilhaften, hochgelegenen Position aus operieren könnten.«
All dieses legte er ihr in seinem reinen Mandarinchinesisch dar, während seine dunkelbraunen Augen unverwandt auf Gladys gerichtet waren. »Ai-weh-deh«, setzte er offen hinzu, »wollen Sie China helfen?«
Gladys atmete tief. Eine so direkte Frage hatte sie nicht erwartet. »Ich bin Chinesin — naturalisierte Chinesin«, sagte sie langsam, zögernd. Sie versuchte, die richtigen Worte zu wählen: »Schon lange bin ich in großer Sorge um dieses Land.«
»Besteht Gott auf Neutralität in allen Dingen?« fragte er ernst.
»Ist er nicht gegen alles Böse?«
»Ja... aber...« Dieses Zögern war ihr ganz unähnlich. Sie verstand sich selbst nicht recht.
»Die japanischen Absichten in China sind böse, nicht wahr?« fuhr er fort. »China kämpft bis zum letzten Blutstropfen, um die Ausbreitung des Bösen zu verhindern. China muß diesen Krieg gewinnen.«
Gladys hatte nie so ernsthaft und genau über die sittlichen Hintergründe des Kampfes nachgedacht, der die vergangenen zwei Jahre ihres Lebens begleitet hatte. Sie hatte den Krieg als eine Art Seuche angesehen, die den Menschen auferlegt wurde; sie hatte die Japaner gehaßt, aber nicht Patriotismus war die Ursache dieses Hasses. Seltsam war es, daß dieser junge Mann mit der sanften Stimme sie zur inneren Auseinandersetzung mit diesen Fragen zwingen sollte! Endlich sagte sie: »Ich will Ihnen helfen, soweit es mein Gewissen erlaubt.«
Er stand auf und verbeugte sich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er liebenswürdig. »Wenn ich darf, würde ich gern wiederkommen und mich mit Ihnen weiter unterhalten...«
Sie begleitete ihn an das Tor des Missionsgeländes und ging gedankenvoll, mit gesenktem Kopf, ins Haus zurück. Zum erstenmal kam ihr zum Bewußtsein, wie lange sie schon in der rauhen Gemeinschaft des einfachen Volkes gelebt und dabei ganz vergessen hatte, daß Menschen so kultiviert und liebenswürdig sein konnten wie dieser junge Mann, und fast hatte sie auch vergessen, daß überall auf der Welt im Leben einer Frau der Mann eine Rolle spielt.
Es dauerte eine Woche, bis er wieder von sich hören ließ. Die Japaner waren viele Kilometer in Richtung Luan zurückgetrieben worden, und starke nationale Truppen waren rund tun Tsechow zusammengezogen. Der chinesische Generalissimus und sein Stab hatten ihr Hauptquartier in der Stadt errichtet. Unter einem kleinen Vorwand kam der junge Mann und bat um Erlaubnis für seine Leute, dem Gottesdienst in der Mission beizuwohnen.
Gladys antwortete, sie würde sich freuen, wenn sie kämen; mehrere japanische Christen hätten regelmäßig den Gottesdienst besucht, als die Stadt von ihren Truppen besetzt war. Sie sah, wie sich seine Augenbrauen hoben, sie sah das schnelle, zornige Blitzen seiner Augen, und — sie spürte ihr eigenes Erröten.
»Ich bin nach China gekommen, um das Evangelium Christi zu predigen«, sagte sie etwas heftig.
Er neigte den Kopf wie zu einer kleinen Verbeugung; es war eine für ihn besonders typische Bewegung, und eine Würde und eine Bitte um Entschuldigung lag in dieser kleinen Geste, die jedesmal ihre Entrüstung beschwichtigte. Er fragte sie vieles; und er sprach von sich selber: wie er in Peking erzogen und auf der Staatlichen Militärakademie in Nanking ausgebildet wurde; wie er ganz China bereist hatte, und vor allem, wie leidenschaftlich er sich sehnte nach einem starken, freien, von unbestechlichen Männern geführten Reich. Dann stand er auf, fast, als ob er fürchtete, zuviel gesagt zu haben. Als er sich zum Abschied verbeugte und bat, wiederkommen zu dürfen, um mit ihr zu plaudern, spürte sie, daß er nur gekommen war, um sie zu sehen. Der Gedanke kam wie ein kleiner bunter Vogel angeflogen und ließ sich in ihrer Seele wie auf einem jungen Maienzweig
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