Eine unbegabte Frau
Schnee zu weichen begann, beschloß Gladys, ihre Freunde in Tsechow, die Familie Davis, zu besuchen, selbst wenn die Stadt von den Japanern besetzt wäre: denn Gladys war beunruhigt, seit Monaten hatte sie nichts von ihnen gehört. Immerhin waren Nachrichten durchgesickert, daß die Einwohner von den Japanern gut behandelt würden. Das Missionsgelände in Tsechow lag außerhalb des Stadtwalles, und obgleich die Stadttore von den Japanern ziemlich streng bewacht wurden, konnten und wollten sie über das dauernde Hin und Her von Flüchtlingen und Bauern außerhalb der Mauern keine Kontrolle ausüben.
Gladys glaubte, daß es ihr gelingen müßte, als einfache chinesische Bäuerin durchzukommen. Nachts erreichte sie Tsechow, als selbst die mutigsten Japaner sich schon hinter der Stadtmauer verbarrikadiert hatten. Warm und herzlich war der Empfang in dem befreundeten Haus.
Sie bestätigten ihr, daß sich die Japaner im allgemeinen erträglich verhielten. Es war nun das zweite Mal, daß sie unter japanischer Besatzung lebten, und bis zum heutigen Tage waren sie nicht von ihnen belästigt worden. Ab und zu wurde die Mission von den Besatzungstruppen durchsucht, sie hatten aber kaum etwas zu beanstanden gefunden. Schon während der ersten Besetzung war das Verhältnis zwischen Feind und Einwohnerschaft recht gut gewesen. Nach Davis’ persönlichen Erfahrungen erwiesen sich viele japanische Offiziere als sympathische Menschen, von denen einige — wenn auch nicht wirkliche Christen — so doch zu seiner Überraschung an Gesprächen über das Christentum interessiert waren. Manchmal sogar besuchte eine Gruppe Soldaten seine Gottesdienste. Japan und England waren zwar noch immer befreundete Nationen, aber unter der Oberfläche spürte er schon damals die verborgene Feindschaft.
Er ermahnte Gladys, vorsichtig zu sein, sehr vorsichtig. Daß sie gerade jetzt nach Tsechow gekommen war, traf sich gut; vielleicht konnte sie die Leitung der Mission übernehmen, solange er abwesend war: er wollte zwei ältere europäische Damen, die in Tsechow verblieben waren, aus der Gefahrenzone geleiten bis nach Chifu an der Ostküste, was eine Reise von etwa zwei Monaten bedeutete. Das Gebiet von Schansi war allmählich immer mehr zum Schlachtfeld geworden. Partisanen versteckten sich in den Bergen, die Truppen des örtlichen Kommandeurs hatten sich mit den Nationalisten Tschiang Kai-scheks vereinigt. Wie ein gereiztes Stachelschwein seine Stacheln aufrichtet zum Kampf, so starrte das ganze Gebiet von Widerstandsnestern. Gladys hatte beobachtet, wie mangelhaft die Nordtruppen ausgerüstet waren, und das Mitleid hatte ihr oft das Herz abgeschnürt. Es fehlte ihnen keineswegs an Mut; aber für vier bis fünf Mann war immer nur ein Gewehr vorhanden; im Gefecht warteten die anderen, bis der Schütze fiel, dann ergriff der nächste seine Waffe und setzte den Kampf fort. Aber als Tschiang Kai-scheks Truppen erschienen, besser ausgerüstet und nun verstärkt durch die heldenmütigen Nordtruppen, zeigten sie den Japanern, daß die Rolle eines militärischen Eroberers eine außerordentlich blutige Angelegenheit sein konnte! Zeitweilig wurde das Kriegsbild noch verwickelter, wenn kommunistische Truppen von Sechwan angriffen und ebenso emsig die chinesischen Nationalisten wie auch die Japaner attackierten. Es war ein verzweifelter Kampf, in dem Pardon weder gefordert noch gegeben wurde.
In der Mission in Tsechow, die von einem ausgedehnten ummauerten Gelände umgeben war, hatte David Davis versucht, eine gewisse Neutralität aufrechtzuerhalten. Nachdem er zu seiner Reise nach der Küste aufgebrochen war, hatte Gladys alle Hände voll zu tun, denn mehr als hundert Waisen- und Flüchtlingsländer und viele Heimatlose warteten auf ihre Hilfe. Ihre Scheu vor den Japanern überwand sie bald, und von den Quartiermeistern erbat und erhielt sie Lebensmittel für ihre Schutzbefohlenen. Die Japaner gaben ihr immer wieder Rätsel auf; und nie konnte sie ihre zeitweilige Höflichkeit und Großmut mit den schrecklichen Beweisen ihrer Grausamkeit in Einklang bringen. Die meisten japanischen Soldaten liebten die Kinder. Gladys erinnerte sich gern des Tages, als eine große Gruppe nach dem Dienst auf dem Missionsgelände erschien und pralle Säcke voll Zucker mitbrachte, deren Inhalt sie in große Wasserkrüge schütteten, worauf sie das süße Gemisch mit fröhlichem Lachen und Rufen an die jubelnden Kinder austeilten. Gladys war dankbar für diese Erinnerung — nur
Weitere Kostenlose Bücher