Eine unbegabte Frau
nieder. Voller Unglauben schüttelte sie den Kopf. Es war verwirrend. Als er gegangen war, blieb sie vor dem zerbrochenen Spiegel in der Ecke ihres Zimmers stehen, suchte ihr Gesicht darin und sah doch halb träumend durch ihr Spiegelbild hindurch. Sie war nicht mehr jung, aber ihre Augen waren groß und dunkel, und obgleich ihre Haut von der Sonne tief gebräunt war, hatten die Jahre nur wenige zarte Linien in ihr schmales Gesicht gezeichnet. Aber wie düster sah sie in dieser dunkelblauen, hochgeschlossenen Baumwolljacke aus! Gedankenverloren nahm sie eine weiße Blüte aus der Vase in der Ecke und steckte sie in eines ihrer schon leicht fransig gewordenen Knopflöcher. Und sie freute sich auf den nächsten Besuch...
Er kam an einem Abend, als sie gerade ihre Vorbereitungen für eine Reise nach drei abgelegenen Dörfern tief in den Bergen beendet hatte. Einsame und schwierige Pfade führten dorthin. Sie lachte und erzählte ihm davon und wunderte sich über seine Bestürzung, als sie die Route beschrieb.
»Treiben sich nicht Banditen in dieser Gegend herum?« fragte er.
»Ja, eine Menge.«
»Und Sie wollen allein gehen?«
»Aber ich bin fast immer allein unterwegs!«
»Das ist doch viel zu gefährlich für Sie! Und die Pässe sind hoch und steil. Wenn Sie stürzen und ein Bein brechen oder sich sonst irgendwie verletzen, können Sie tagelang liegen, ohne daß Sie jemand findet.«
Gladys sah fast verlegen zu ihm auf. In all den Jahren in China hatte sie noch niemals erlebt, daß jemand sich um sie sorgte, und nun kam dieser reizende junge Mann und schien ihretwegen ernsthaft beunruhigt. Es war für sie ein ganz neues Erlebnis, fast wie ein Geschenk. Wie wohl das tat!
»Es wird mir schon nichts passieren«, sagte sie. »Ich bin’s gewöhnt, für mich selbst zu sorgen.«
»Seien Sie vorsichtig«, bat er. »Bitte, seien Sie nicht leichtsinnig.«
Eine Woche war sie unterwegs in dem bergigen Gebiet, und als sie zurückkam, wartete Linnan — seinen Namen hatte er ihr das letzte Mal gesagt — schon auf sie. Offenherzig ließ er sie seine Erleichterung und Freude spüren.
»Aber ich habe solche Reisen doch schon hundertmal gemacht«, protestierte Gladys verwundert, »darüber braucht man sich wirklich nicht aufzuregen.« Daß ein junger Hauptmann des Nachrichtendienstes wegen eines so unwesentlichen Persönchens wie Ai-weh-deh in Unruhe geriet, machte ihr Spaß. Und — sie konnte es sich nicht verhehlen — es schmeichelte ihr ein wenig. —
Seine Besuche wurden nun immer häufiger, sie wurden gute Freunde. Beide waren gleich alt, beide mit einem scharfen, wißbegierigen Verstand begabt. Abends gingen sie oft zusammen durch die engen Straßen von Tsechow, vorbei an den dunklen, von chinesischen Laternen nur düster erhellten Basaren, vorbei an den Wahrsagern und Geschichtenerzählern, den kleinen Imbißbuden, den Seidenhändlern und den lachenden und lästernden Soldaten. Einmal wanderten sie über die Felder rund um die alte, mauerbewehrte Stadt und sahen den Mond hinter den großen Tempeln und den mit Ziegeln gedeckten Pagoden untergehen. Er erzählte ihr von China, seinen Traditionen, seiner Kultur, seiner Schönheit und seinem Geist. Er vertiefte ihren Einblick in das Wesen eines Landes, das sie genau zu kennen glaubte, und erst nach diesem Gespräch wurde sie gewahr, daß sie es bisher überhaupt noch nicht gekannt hatte.
Jedesmal, wenn sie in den kommenden Wochen zusammenkamen, schien der ungeheure Abgrund zwischen ihren beiden so verschiedenen Welten ein wenig zu schwinden. Seine Stimme bezauberte sie. Ihr war der rauhe Bergdialekt so zur Gewohnheit geworden, daß die uralte Musik seiner klassischen und fließenden Mandarinensprache für sie ein endloses Entzücken war. Eines Abends, als er sich erhob, um Abschied zu nehmen, und sich wie gewöhnlich verbeugte, sah sie in dem sanften Lampenlicht in seinen Augen ein Verstehen, eine Vertrautheit wie nie zuvor. Fast schroff sagte sie ihm gute Nacht, und wieder und wieder fragte sie sich unruhig, oh sie wohl bei ihrem harten Leben jene frauliche Anziehungskraft bewahrt hatte, nach der der Mann verlangt und die ihn hält. Sie war Missionarin — sie hatte sich Gott geweiht. Aber Gott hatte aus ihr auch eine Frau gemacht, in der die natürlichen Ströme und Kräfte, die die Menschheit bewegen, lebendig waren. Wenn sie Liebe für einen Mann empfand, so konnte das nicht gegen Gottes Willen sein.
Sie war gerade wieder von einer langen Fahrt in die Berge
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