Eine unbegabte Frau
Stadt.
Wege gab es hier nicht. Sie keuchten aufwärts über Terrassenfelder zu einem weiten, von steilen Bergspitzen flankierten Tal und stiegen über Hirsepflanzungen noch höher hinauf. Den ganzen Tag hindurch kletterten sie und nahmen sich kaum Zeit für eine Ruhepause. Der wirre Lärm unter ihnen wurde allmählich schwächer. Das Tal dehnte sich über viele Kilometer aus, überall von Bergen eingefaßt. In regelmäßigen Zwischenräumen lagen hier kleine Dörfer mit ihren Büschen und Blumen, mit grünen Weizenfeldern im Flickwerkmuster der Terrassen. Wan Yüs Dorf war das letzte und höchste in diesem Tal, und ihr Bruder, der vom Feld hereingelaufen kam, nahm sie liebevoll auf. Zu jeder anderen Zeit wäre es hier oben idyllisch gewesen, denn vom Dorf neigte sich das Tal sanft hinab zum Chinfluß, dem sich windenden, sonnenglänzenden Streifen weit unten. Dort, wo das Tal mit der tiefen Schlucht des Flußbettes sich vereinigte, erhoben sich die Mauern der Stadt, die sie eben verlassen hatten und die nun in die Hände der Japaner gefallen war.
Jenseits, hoch in den Himmel ragend, lagerten die Berge mit ihren Kuppen und Zinnen. Es war Hochsommer, und in den geschützten Talterrassen blühten die Rosen, pelzfüßige Bienen summten um die duftenden Kelche, Schweine und Hühner grunzten und glucksten zufrieden bei ihrer eifrigen Forschungsarbeit. Hoch oben im Blauen zogen Adler ihre Kreise und spähten mit scharfen Augen nach dem ungewöhnlichen Rauch, der sich von den Dörfern erhob und die Ufer entlang und über die niedrigeren Abhänge zog, denn die Eroberer aus Nippon brannten und plünderten und mordeten. Von der alten Stadt Shin-Schui ausgehend, machten sie täglich räuberische Vorstöße ins Land hinein.
Gesegnet und gestützt durch ihre Staatsreligion, den Schintoismus, glaubten sie, daß ihr Reich älter und ehrwürdiger sei als jedes andere auf Erden; daß ihr Kaiser direkt von den Göttern abstamme und daß diese ihrem Volk — als ihren Kindern — die heilige Mission aufgetragen hätten, die übrige Menschheit zu »retten«; sie glaubten daran, daß ein japanischer Soldat nichts Unrechtes tun konnte, denn waren nicht alle ihre Kriege heilige Kriege? Sie verbrannten die Ernte auf den Feldern, vergewaltigten alte Frauen und junge Mädchen, stahlen die Lebensmittelvorräte und schossen Bürger und Bauern nieder, wo sie ihren Weg kreuzten.
Durch ein Loch im äußeren Wall des Hofes sah Gladys den Rauch und die Flammen aufsteigen, die deutlich genug von den Ereignissen dort unten erzählten.
In Wan Yüs Haus lebte ihre alte Mutter, ihr Bruder und seine Frau. Bald aber gesellten sich noch viele andere dazu, gehetzte Menschen, die vor den Japanern immer weiter geflüchtet waren und die endlich im Hause Wan Yüs zur Ruhe kommen sollten. Sie waren mit ihren Kräften am Ende. Zwei blinde alte Männer fanden hier Unterkunft, schwangere Frauen und andere mit Säuglingen oder einem halben Dutzend Kinder. Es waren auch Verwundete unter den Flüchtlingen, die nicht mehr über die Berge konnten. Gladys blieb nur das Gebet, daß Gott die Japaner fernhalten möge. Und wieder verwandelte sie ein Haus in einen improvisierten Verbandsplatz und eine — wenn auch nur mit dem Allernötigsten versehene — Pflegestätte.
Beinahe täglich verließen die Truppen ihr Hauptquartier in Shin-Schui, um systematisch die sieben Dörfer entlang der Flußufer zu plündern. Am Abend aber legten sie Wert darauf, vor Anbruch der Dunkelheit wieder innerhalb ihrer Mauern und schweren, verschlossenen Stadttore zu sein. Fast jede Nacht ging Gladys mit einigen Männern hinunter ins Tal; ihre Papierlaternen hoch erhoben vor sich hertragend, suchten sie Bewußtlose und Verwundete und brachten ihnen Hilfe. Gladys wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der Feind seine Aufmerksamkeit auch auf die Dörfer weiter oben im Tal richten würde. Doch Wan Yüs Dorf war so entlegen, daß sie zu hoffen wagte, verschont zu bleiben. Ununterbrochen drängten Flüchtlinge durch das Dorf in Richtung auf die jenseitigen Berge. Nachdem sie schon einige Wochen hier oben lebten, organisierte Gladys einen Wachdienst, um während der Tagesstunden das Loch im Wall zu kontrollieren.
Fünf Wochen nach der Besetzung von Shin-Schui dehnten die Japaner allmählich ihre Raubzüge immer weiter aus. Gladys mußte sich sagen, daß sie — obgleich das Haus voll von Alten und Kranken war — keine Gnade von den Japanern erwarten durfte. Da Partisanengruppen
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