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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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unermüdlich die feindlichen Unternehmungen behinderten, galt jedes Dorf und jedes Gehöft dem Feind als Versteck der Widerständler und wurde ohne Nachsicht ausgeräubert.
    Aber das Gerücht, daß die kleine Frau, der ein Gott mit magischen Schutzkräften innewohnte, im Dorf geblieben war, verbreitete sich weiter, und der Strom der Hilfesuchenden riß nicht ab. An dem Abend, als die Japaner kamen, versorgte Gladys gerade eine kranke Frau in einem der oberen Räume, und noch ehe ihre Tür aufgerissen wurde, hörte sie Wan Yüs schrillen Schrei: »Sie sind da, sie sind da!«
    Gladys rannte die Treppe hinunter und über den Hof zu dem Loch in der Mauer. Sie lugte hinaus. Ihr Haus war das erste im Dorf, nur ein kleiner Tempel, etwa fünfzig Meter entfernt, lag weiter unten im Tal. Von dort herauf hörten sie die Priester Hörner blasen, Trommeln schlagen und sahen den Rauch ihrer Opfer aufsteigen, womit sie die Japaner zu vertreiben hofften. Von ihrem Beobachtungsposten aus sah Gladys einen Trupp in Khaki gekleideter Männer die Terrassenfelder heraufkommen und sich nahe dem Tempel versammeln. Sie berieten sich; einige wandten sich dem Tempel zu, andere nahmen den Weg zu Wan Yüs Haus. Unweigerlich würden sie diesen Hof zuerst betreten — wenn Gladys sie nicht auf irgendeine Weise daran hindern konnte. »Versteckt euch schnell!« schrie sie Wan Yü zu. »Ich will versuchen, sie zurückzuhalten.«
    Sie rannte zum Eingangstor. Sie wußte noch nicht, was sie tun wollte, sie wußte nur: der Feind mußte aufgehalten werden und sollte sie ihn mit ihren bloßen Händen angreifen! Wenn sie jetzt den Japanern entgegenträte — würde nicht vielleicht der Anblick eines »fremden Teufels« an so ungewöhnlichem Ort sie für kurze Zeit zögern lassen? Vielleicht auch würden sie die anderen vergessen. Das Haustor war stark, die Riegel aus schwerem Eisen, aber als sie davorstand, schwand plötzlich all ihr Mut dahin. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Tor, um einen Halt zu finden; die geballte Hand drückte sie auf ihr Herz, um das wilde Schlagen zu unterdrücken, und blieb sekundenlang so stehen in ohnmächtiger Furcht und Unentschlossenheit. Auf einmal aber formte sich in der Wirrnis ihrer Seele so klar, als würde er neben ihrem Ohr gesprochen, ein Satz:
    »Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.«
    Sie richtete sich gerade auf, und alle Furcht fiel von ihr ab. Sie wandte sich um, drückte mit beiden Händen die Klinke nieder, öffnete das schwere Tor und trat hinaus in den hellen Sonnenschein. Im gleichen Augenblick hörte sie vom Balkon hinter sich die schrille Stimme Wan Yüs: »Ai-weh-deh, sie gehen zurück! Sie gehen zurück! Sie gehen hinunter ins Tal! Sie gehen weg!«
    Gladys fühlte die Sonne warm auf ihrem Gesicht; sie versuchte, zu Wan Yü zurückzurufen, aber ihr Gaumen war trocken, ihre Füße zitterten; sie setzte sich schnell nieder auf die Schwelle des Torwegs und atmete langsam und tief. Als sie ins Haus ging, hörte sie das befreite Weinen der alten Leute.
    Die Japaner kamen nicht mehr zurück. Die Wochen vergingen, und im späten Sommer zogen sie ab von Shin-Schui, marschierten die Maultierstraße entlang nach Yang Cheng und weiter nach Tsechow, wo sie ihr Winterlager auf schlugen. Als die Nachricht von ihrem Abzug Gladys erreichte, ging sie mit Wan Yü und Thimothy zurück nach Shin-Schui. Das braune Paket mit den Poststempeln nahm sie mit und gab es dem höchst verlegen dreinschauenden Beamten zurück. Sie gingen weiter über die Berge nach Bei Chai Chuang und dann den Maultierweg entlang nach Yang Cheng und der Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten«.
    Ein trübsinniger Anblick erwartete sie. Noch immer öffnete sich das zerstörte Dach zum Himmel; den Missionssaal hatten die Japaner als Stallung für ihre Pferde benutzt. Schmutzig war alles, aber soweit es möglich war, machte sie die Räume weder bewohnbar. Die meisten Einwohner kehrten nun aus den Berghöhlen und Bergdörfern heim und besserten die Schäden an ihren Häusern aus. Die alte Stadt erwachte langsam zu neuem Leben. Auch der Mandarin mit seiner Begleitung zog in den Yamen ein, der Gefängnisdirektor erschien mit den Wächtern. Vom Süden kamen die ersten Maultierzüge, und ein paar Kaufleute öffneten ihre Läden mit einem verschwindend kleinen Warenvorrat. Aber erst als der schwere Winterschnee die Pässe verriegelte, fühlten sich die Menschen sicher in ihren Betten.
    Im Februar, als der

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