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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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notierte und diese Informationen an die nationalchinesischen Truppen weitergab, ja diese sogar dahin führte, wo sie den Feind angetroffen hatte. Gladys wußte genau, was sie tat, und schämte sich ihrer Handlungen nicht. Sie war den amtlichen Akten nach wie in ihrem menschlichen Empfinden Chinesin geworden. Hätte sie in London gelebt und England wäre in Gefahr gewesen — sie hätte genauso gehandelt. Ihr Herz hatte sich dazu durchgerungen, diesen Kampf mitzukämpfen, auch wenn ihr Gewissen nicht uneingeschränkt dazu ja sagen wollte.
    Es war schon fast dunkel, als sie wieder in das Dorf gelangte, wo sie mit den Nationaltruppen Verbindung aufgenommen hatte. Der Dorfälteste ging ihr entgegen — ein freundlicher alter Mann, über dessen verblichener blauer Baumwolljacke eine dünne Strähne weißer Haare von seinem Kinn herabpendelte. »General Ley ist hier«, flüsterte er. »Er besuchte mich, wir sind alte Freunde. Als er hörte, Sie könnten zurückkommen, wollte er auf Sie warten. Er möchte Sie sehr gern kennenlemen.«
    Gladys beschleunigte ihre Schritte; sie hatte schon viel von General Ley gehört, war ihm aber noch nie begegnet. Er war in der Provinz bereits zur legendären Figur geworden, katholischer Priester, Europäer — doch welcher Nation er eigentlich angehörte, wußte sie nicht. In dieser Zeit erstarkenden Nationalgefühls sprach man allgemein Chinesisch, und niemand fragte den anderen nach Privatangelegenheiten. Später hörte sie einmal, er sei Holländer, doch war das nur eine Vermutung.
    Als die Japaner in Schansi einfielen, hielt es Ley nicht aus, die Hände in den Schoß zu legen und sich auf Gottes Gnade zu verlassen. Als streitbarer Christ besorgte er Waffen für seine Gemeindemitglieder und kämpfte mit ihnen gemeinsam. Jetzt war er Führer einer großen Partisanentruppe. Sie lebten in den Bergen und setzten den Japanern zu, wo und wie sie immer konnten. So kam es, daß Gladys dem Mann mit einer gewissen Spannung entgegensah, dem es gelungen war, diese harte Wirklichkeit mit seinem christlichen Gewissen zu versöhnen.
    Im ungewissen Licht des Zimmers sah sie ihn stehen, breitbeinig, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, eine stämmige Gestalt, in den langen schwarzen Priesterrock gekleidet. Sein kurzgeschnittenes Haar war blond, sein Gesicht großflächig und von Gedankenarbeit geprägt, der Mund entschlossen und doch biegsam, bereit zum Lächeln. Nur seine Augen, dachte sie, blickten traurig und einsam. Er lächelte und streckte die Hand aus. »Ai-weh-deh! Wir folgen dem gleichen Ziel, obwohl Sie eine Frau sind und ich ein Mann, Sie eine Protestantin und ich ein Katholik.«
    »Ich bin sicher, daß wir vieles gemeinsam haben, General Ley«, sagte sie und lächelte zurück.
    »Ja, denn wir haben einen gemeinsamen Feind«, antwortete er, plötzlich wieder düster. Das Lachen war aus seiner Stimme geschwunden, seine Augen waren ernst. »Kommen Sie, setzen Sie sich und lassen Sie uns ein wenig miteinander reden. Sie sind sicher müde und hungrig?«
    Mit ihren Stäbchen die Teigschnüre aus den Eßschalen hebend, saßen sie sich beim flackernden Licht der Öllampe gegenüber, und beide fühlten sich von einer Atmosphäre warmer Freundschaft umfangen, wie sie nur selten einem ersten Zusammentreffen beschieden ist. Sie sprachen von den verschiedensten Dingen.
    Der größte Teil der Truppe Ley hielt sich in Berghöhlen unweit des Dorfes auf. In der kommenden Nacht sollten sie hier durchziehen, um die Handelsstraße zwischen Tsechow und Kaoping unter Feuer zu nehmen. Die Aktion war durch ausgezeichnete Informationen vorbereitet.
    »Viele Japaner werden morgen das Leben lassen«, sagte er ernst. »Mit dem Maschinengewehr werden wir sie niedermähen, sowie sie in Reichweite kommen.« Es war nicht schwer für Gladys, die die bittere Ironie in seiner Stimme mit Erschütterung heraushörte, seine innere Verzweiflung zu erraten. Es war schon deshalb nicht schwer, weil der gleiche Konflikt ihr eigenes Herz beunruhigte. »Viele Japaner werden das Leben lassen« — es klang so ganz anders, als wenn sonst ein militärischer Kommandeur ankündigte: »Wir werden ihre Verbindungslinien abschneiden!« oder: »Wir wollen ihren Nachschub abfangen!« oder: »Wir werden ihnen tüchtig eins auswischen!« Er scheute sich nicht, die wunde Stelle zu berühren. »Wir werden viele töten«, wiederholte er. Ihre Augen trafen sich über dem Lämpchen. Das aufwärtszüngelnde gelbe Licht warf tiefe Schatten. Sie

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