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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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alles einmal vom Herzen zu reden.
    Ley nickte langsam. »Ja —«
    Er schwieg, und Gladys sah, wie ein schwerer Seufzer seine Brust unter dem Priestergewand weitete.
    »Wir stellen uns ja selbst diese Frage, Ai-weh-deh, nicht wahr? Und wir beantworten sie zu unserer eigenen Beruhigung; vor jedem menschlichen Gericht könnten wir mit bestem Gewissen auftreten und uns verteidigen — und doch verfolgt uns der Gedanke — unerbittlich —: wird eine solche Antwort auch vor Gottes Richterstuhl gelten?«
    Sie erwiderte nicht. Sie wußte, daß es nicht nötig war; er prüfte nur laut sein eigenes Gewissen. »Ich bin christlicher Priester«, fuhr er langsam fort. »Ich bin in dieses Land gekommen, um die Unwissenden zu belehren und den Kranken zu helfen und das Wort Gottes denen zu bringen, die noch nie davon gehört haben. Und trotzdem liegen auf dem Schlachtfeld die Leichen der Menschen, die ich töten half — ja, die ich selbst getötet habe mit diesen meinen eigenen Händen!« — Er streckte die Hände mit einer schnellen, wütenden Bewegung aus.
    »Aber Neutralität — hat sie denn einen Sinn? Überall in der Welt, Ai-weh-deh, wird gekämpft gegen den gemeinsamen Feind, das Böse. Und wenn nicht jeder Mensch diesen Kampf geistig, moralisch und körperlich mitkämpft, auf welchem Gebiet es ihm eben möglich ist — wie können wir dann jemals siegen? Ich bin ein Mann, Ai-weh-deh, ein Mann ebensogut wie ein Priester. Sie wissen selbst genau, was die Japaner getan haben, wie sie töten und plündern und schänden. Wird von einem christlichen Mann erwartet, daß er dabeisteht und zusieht, während der Schrecken immer weiter um sich greift? Ich kann es nicht, und ich werde es auch nicht tun!«
    Seine Stimme klang scharf und böse, seine Augen glühten sie über den Tisch hinweg an. Dann aber erlosch sein Zorn so schnell, wie er gekommen war. Er sah auf seine Hände nieder, die noch immer ausgestreckt vor ihm auf dem Tisch lagen, und strich mit ihren Flächen an seinem schwarzen Gewand hinab, als wollte er einen Fleck abwischen. »Gott wird über mich zu Gericht sitzen«, schloß er müde.
    Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Dann hoben sich seine Augen wieder, ein Lächeln, halb ironisch, halb hilflos, öffnete seine Lippen: »Ich gehöre einem Orden an, der an den Segen der Beichte glaubt«, setzte er dann ruhig hinzu.
    Gladys erwiderte seinen Blick: »Ich verstehe Sie gut«, antwortete sie ihm nur. Sie fand keine anderen Worte, obgleich ihr Herz sich danach sehnte, ihr Mitgefühl, ihr Mit-Leiden auszudrücken, ihn fühlen zu lassen, daß er nicht allein sei. Wie konnte sie ihm helfen? Sie wußte keinen anderen Weg als den, welchen sie selber ging — niemand konnte ihm seine Bürde abnehmen oder sie mit ihm teilen. Zwischen ihren Konfessionen gab es keine Verschmelzung. Aber eines spürte sie bei dieser Begegnung: Ley und sie, zwei Fremde, die sich fern ihrer Heimat hier getroffen hatten, nahmen von dieser Aussprache einen Trost mit, keinen sehr umfassenden Trost, aber doch einen Trost, der ihnen bleiben würde. Zwei winzige Splitter der Menschheit, die der Strom des Krieges für einen Augenblick zueinandergespült hatte, fanden doch in dieser Stunde eine menschliche Haltung, die Würde genug besaß, um nun nicht mehr verlorenzugehen. Sie ahnte nicht, daß in all den kommenden Jahren solche Begegnungen das Wesentliche im Verkehr der Menschen werden sollten — unter jedem Breitengrad, in jedem Klima. Das Wachsen und Reifen von Freundschaften wurde durch Trennungen zerschlagen, die Regeln zivilisierten Verhaltens von den brutalen Notwendigkeiten des Krieges. Die wenigen schicksalhaften Augenblicke vor der Schlacht, vor der Gaskammer, vor der Einschiffung, der Operation, der fallenden Bombe waren oft das einzige, was Millionen von Männern und Frauen als Trost blieb auf ihrem kurzen und bitteren Weg in den Tod. Von diesen Minuten, Stunden oder Tagen konnte für den Sterbenden Sinn oder Unsinn seines Sterbens abhängen; solche menschlichen Bemühungen mochten dem possenhaften Verhalten des homo sapiens einen Schein von Vernunft leihen, den Glauben an die sinnvolle Führung Gottes wieder aufrichten, diesen Glauben, der durch nichts Irdisches zu ersetzen ist, weil er allein der Seele Ruhe gibt, wenn ringsum die Verwirrung wächst.
    Der Docht in der irdenen Lampe war heruntergebrannt. In der Dunkelheit verließ General Ley das Haus des Dorfaldermannes, sein langer schwarzer Rock flatterte ihm um die Beine, als er

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