Eine unberührte Welt - Band 6 (German Edition)
genug, eine Woche auf sich selber aufzupassen, hat Mama gesagt.
Aber die Blumen! Er hat jeden Morgen dran gedacht. Und nicht zu viel und nicht zu wenig gegossen, sondern genau wie Mama es ihm gezeigt hat. Er schaut wieder auf die Uhr. Der große Zeiger ist schon auf dem zweiten Strich vor ganz oben; er muss sich anziehen.
Mama wird ganz schön enttäuscht sein von ihm. Das mag er gar nicht, wenn sie enttäuscht ist, weil sie dann ein totes Lächeln bekommt und das wirkliche Lächeln drunter wegstirbt. Dann seufzt sie leise und sagt so Sachen wie »Oh, Hermann …« und geht ans Fenster und schaut hinaus und sieht dabei irgendwie sehnsüchtig aus. So, als wünscht sie sich in dem Moment, dass es ihn gar nicht gibt.
Aber es hilft nichts, er muss los. Er packt seine Aktentasche unter den Arm und vergewissert sich, ehe er die Tür zuzieht, dass er den Hausschlüssel um den Hals hängen hat. In der Aktentasche hat er nur sein Vesper, das er sich selber gemacht hat, aber es gefällt ihm, die Tasche unter dem Arm zu tragen, weil er dann so richtig das Gefühl hat, auf Arbeit zu gehen und erwachsen zu sein wie die anderen Leute in der Straßenbahn, die auch Aktentaschen tragen und auch auf Arbeit gehen. Bloß dass die klüger sind als er und schwierigere Sachen machen, mit Computern vielleicht. Wie Ludwig, der Werkstattleiter. Sein Chef. Der hat einen Computer in seinem Büro, und vor dem sitzt er viel, schaut auf den Bildschirm und macht irgendwas.
Heute ist er irgendwie traurig, als er an der Haltestelle steht mit denanderen. Manche schauen ihn komisch an, aber das ist er gewohnt. Das macht ihm schon gar nichts mehr. Nicht einmal die hübsche Frau ist heute da, die sonst immer da ist. Er steigt immer in den gleichen Wagen wie sie, sodass er sie während der Fahrt anschauen kann. Er weiß auch nicht, wieso eigentlich.
Heute bekommt er einen Sitzplatz, und ihm gegenüber sitzt ein Mann, der Zeitung liest. Hermann erkennt die Zeitung; die gleiche Zeitung liest Ludwig auch. Sie hat riesige Wörter überall, die rot unterstrichen sind, und meistens Bilder von nackten Frauen drin, die sich Hermann manchmal heimlich anschaut, und dann bekommt er immer so ein eigenartiges Gefühl.
Der Mann liest die Rückseite. Hermann versucht, die Worte auf der Vorderseite zu lesen. »Wissenschaftler« steht da. Er weiß, was ein Wissenschaftler ist: ein furchtbar kluger Mensch, der in einem Labor arbeitet und alle möglichen Sachen erforscht. Das hat er im Fernsehen oft gesehen. »Wissenschaftler setzt Todes-Gen frei.« Das versteht er nicht. Er versteht meistens nicht, was gemeint ist, wenn er etwas in der Zeitung liest. Er überlegt, was wohl ein Todes-Gen ist.
Am Bahnhof steigt die hübsche Frau immer aus, aber heute nicht. Er muss noch vier Stationen weiterfahren. Das kann er zählen, und außerdem sieht er schon von weitem das kleine Zeitschriftenhäuschen mit dem roten Dach, das an der Haltestelle steht, an der er aussteigen muss.
Auf Arbeit ist es wie immer. Er sagt »Guten Tag« zur alten Frau Steidlitz, die an einem Tisch neben der Tür sitzt und aufschreibt, wer alles kommt und um wie viel Uhr, zieht seinen Anorak aus und hängt ihn an seinen Haken und geht dann an seinen Platz. Dort stehen schon ein paar graue Plastikkästen, wie jeden Morgen. In einem Kasten sind Briefumschläge, in einem anderen gefaltete Briefe, in einem dritten bunte kleine Prospekte.
Er muss immer einen Brief und einen Prospekt nehmen und in einen Umschlag stecken, und zwar so, dass die Adresse in dem durchsichtigen Fenster vorne zu sehen ist. Das kann er wirklich gut. Ludwig lobt ihn immer und sagt, dass er das prima macht. Ludwig ist großund stark und hat einen wilden Bart, und Hermann stellt sich manchmal vor, dass sein Papa auch so ausgesehen hat. Aber er weiß es nicht, weil Papa fortgegangen ist, als er noch klein war.
Als sie ihr Vesperbrot essen, fragt er Iris, die am Platz neben ihm sitzt und immer Glückspfennige auf Briefe klebt, wegen den Blumen. Iris ist dick und hat schwarze Stoppelhaare und schaut ihn mit ihren kurzsichtigen Augen durch ihre Brille hindurch an, und das sieht jedes Mal aus, als müsse sie überlegen, wer er ist.
»Du musst Pflanzendünger gießen«, sagt sie. »Der ist in einer großen grünen Flasche. Nicht bloß Wasser.«
Ludwig sitzt in seinem Büro und hört Radio. Das macht er sonst nie; sonst sitzt er immer bei ihnen und macht Späßchen mit ihnen.
»Aber meine Mama hat nur gesagt, dass ich Wasser gießen
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