Eine unberührte Welt - Band 6 (German Edition)
Programmierer Rabindranath John Selima wenig Chancen eingeräumt, sich mit dem Argument, sein Vorfahre hätte vor Jahrtausenden die Null erfunden, das geistige Eigentum an dieser Ziffer zu sichern. Aber, oh wundersame Wege der amerikanischen Justiz, seit einem halben Jahr kostet im Staate New York jede gedruckte Null einen tausendstel Cent, und Selima verdient doppelt: Er war nämlich der Erste, der mit Programmen auf den Markt kam, die mit römischen Zahlen arbeiten, also ohne Null auskommen. Seine Firma bietet auch entsprechende Umsteigerkurse für Börsenmakler an, und wie man hört, ist in Wall Street das Interesse groß. An der Börse von Chicago wird noch hämisch gelacht, aber abwarten – Insider schließen nicht aus, dass das Urteil auch auf nationaler Ebene Gültigkeit erlangt. So macht man aus Nichts Geld, nehme ich an.
A propos Computerprogramme – mittlerweile gibt es eine neue Version eines bekannten Textverarbeitungsprogramms, die im Stande ist, einen verfassten Text automatisch nach lizenzrechtlich geschütztenWorten zu durchsuchen, per Internet die entsprechenden Lizenzen zu beantragen, die Lizenznummern in den Text einzufügen und, bei entsprechender Konfiguration, die anfallenden Lizenzgebühren selbsttätig zu überweisen. Die anderen Hersteller wollen folgen, aber der erste Hersteller hat schon ein Patent auf diese Idee und wird wohl Lizenzgebühren von ihnen dafür verlangen.
Was an den Gerüchten dran ist, die Katholische Kirche wolle in Zukunft Bibelzitate kostenpflichtig machen, weiß ich nicht. Da werden die anderen Kirchen ein Wörtchen mitreden wollen, nehme ich an. Ein Ende der Entwicklung ist jedenfalls noch nicht in Sicht.
Dabei, fiel mir neulich ein, gibt es für dieses ganze absurde Dilemma im Grunde eine höchst einfache Lösung. Um sie allerdings zu beschreiben, müsste ich das Wort verwenden, das Dr. Raider erfunden hat, und das kann ich mir, wie gesagt, nicht leisten. Vielleicht, sobald der Patentantrag auf meine Idee angenommen ist. Mal sehen. Verfolgen Sie einfach diese Kolumne.
© 1999 Andreas Eschbach
Mutters Blumen
Die folgende Story war ein Experiment. Ich wollte eine ungeheure globale Katastrophe aus einer extrem eingeschränkten individuellen Sicht schildern – aus der Sicht eines Menschen, der gar nicht versteht, was eigentlich passiert. Erst der Leser soll begreifen, was geschehen ist – und geschehen wird …
Die Blumen sehen alle krank aus. Schlapp und faltig hängen die Blütenblätter herum und haben braune Stellen an den Rändern. Die grünen Blätter sind bleich wie Käse. Er stellt erschrocken die Gießkanne hin, rennt zum Kalender und schaut, aber heute ist Mittwoch, erst Mittwoch! Er rennt zurück zur Fensterbank und könnte fast heulen. Er hat doch alles richtig gemacht, genau so, wie Mama es auf die kleinen Zettel geschrieben hat an jedem Topf. Er ist so stolz, dass er lesen kann, was da steht: »Montag, Mittwoch, Freitag« steht an dem Topf, in dem die Blume mit den großen violetten Blüten ist, und »jeden Tag« an dem großen Topf mit der Blume, die überhaupt keine Blüten hat, nur viele lange grüne Blätter und Stengel, und »nicht gießen« steht an den Töpfen mit den stacheligen Blumen.
Au weia, au weia! Er schüttelt wild die Hände, rennt jammernd weg von den Blumen und gleich wieder hin. Heulen könnte er, wirklich heulen. Früher hätte er wirklich geheult, aber er ist jetzt groß, ein erwachsener Mann, der sein Geld verdient. Und der auf Arbeit muss. Er schaut auf die Uhr. Wenn der große Zeiger auf den Strich vor dem Strich ganz oben ist, dann ist es Zeit, zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen.
»Hermann, pass auf meine Blumen auf«, hat Mama gesagt. »Das kannst du doch, oder?« Und er hat großspurig »Ja, klar« gesagt – au,au, au. Jetzt heult er wirklich fast ein kleines bisschen. Er hat sich ganz arg angestrengt, so klug wie möglich zu werden. Er kann die Uhr ablesen. Er kann alleine auf Arbeit fahren. Er kann sogar ein bisschen lesen. Mama hat sich so auf die Reise gefreut, die Reise mit dem großen Schiff nach Afrika. Sie hat versprochen, ihm auch etwas mitzubringen. Er weiß nicht viel über Afrika, aber gehört hat er schon davon. Das ist ein Land, weit weg, in dem Menschen mit schwarzer Haut leben. Solche Menschen hat er hier in der Stadt auch schon gesehen, und er wäre gern mitgefahren, um zu sehen, wie es da ist in Afrika. Aber er muss ja auf Arbeit, und deswegen ist Mama allein gefahren. Und überhaupt ist er alt
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