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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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von Massakern, in Israel wurde Yitzhak Rabin ermordet, in Tokio setzte eine Weltuntergangssekte Giftgas in der U-Bahn frei. Belgien entpuppte sich als Land der Kinderschänder, der Schachweltmeister verlor gegen eine Maschine, auf dem Balkan herrschte Krieg. Das Ende des Jahrhunderts nahte unaufhaltsam.
    Ich schloss mein Studium ab, fand einen Job und lernte Fabienne kennen, die zuerst nichts von mir wissen wollte, mich aber schließlich doch heiratete, fast auf den Tag genau ein Jahr nach Norberts Hochzeit. In den folgenden Jahren waren wir mit Kinderkriegen und Hausbauen beschäftigt, und wie es eben so geht, irgendwann stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, Norbert und Irmina die übliche Weihnachtskarte zu schicken, und da sie auch uns keine mehr geschickt hatten, hakte ich die Beziehung als eingeschlafen ab. Was ich noch mitbekommen hatte, war, dass Norbert, der mehr oder weniger gezwungenermaßen in das Geschäft seiner Schwiegereltern eingetreten war, nach einem Schlaganfall des Seniors die Firma ganz übernommen hatte, innerhalb weniger Jahre zum Marktführer in der Gegend wurde und mindestens zehnmal so viel Geld machte, wie er als Informatiker jemals hätte verdienen können. Bei meinem letzten Besuch erzählte er mir eine Menge über Grundstücksspekulationen, Bauträgerschaften und Steuersparmodelle. Ich kapierte nicht einmal ein Viertel davon, und da er sich zu einem ziemlich arroganten Wichtigtuer entwickelt hatte, sah ich von weiteren Besuchen ab.
    Mir ging es gut in der Zeit, der Job machte Spaß, und ich hatte Glück mit ein paar Aktienspekulationen, sodass wir unser Haus früher abzahlen konnten als geplant. Das Jahr 2000 rückte näher, und alle Welt verfiel in Panik, die Computer könnten an Neujahr anfangen, verrückt zu spielen. Goldene Zeiten für Programmierer brachen an, abgesehen von den Nachtschichten, die das mit sich brachte. Zum ersten Mal im Leben mussten wir uns über die Feinheiten der Schaltjahresregeln Gedanken machen – alle vier Jahre, bei glatten Jahrhunderten aber nicht, bei glatt durch vierhundert teilbaren Jahren aber doch wieder, und so weiter. Mein Kollege Wolfram, genannt Der Hundertfünfzigprozentige, nahm das zum Anlass, sich umfassend über alle Kalender kundig zu machen, die die Menschheit jemals entwickelt hatte, und uns in jeder Mittagspause an seinem Wissen teilhaben zu lassen. So lernten wir den hebräischen Kalender kennen, den muslimischen, den Kalender der Mayas und Azteken, die Zeitrechnung der alten Chinesen und so weiter und so fort.
    Eher beiläufig erwähnte er etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    Etwas so Naheliegendes. Etwas, das man hätte wissen können. Wahrscheinlich hatten wir es sogar in der Schule gehabt und bloß nicht aufgepasst. Etwas, das mich veranlasste, wenige Tage darauf spätabends in Norberts weitläufiger Villa auf seiner ledernen Couchgarnitur zu sitzen. Es war wieder Ende Oktober. Wieder Halloween.
    »Zigarre?«, bot Norbert mir eine Schachtel Havannas an.
    Ich lehnte ab. »Ist Irmina nicht da?«, fragte ich, während er sich das dicke braune Ding umständlich anzündete.
    »Nein«, sagte er, wedelte das Streichholz aus und begann zu paffen. »Kommt erst morgen wieder. Ist mit den Kindern bei einer Freundin, die eine Halloween-Party veranstaltet. Interessant, wie sie den Leuten in den letzten Jahren Halloween als Anlass zum Geldausgeben eingeredet haben, findest du nicht? Bei den Kindern wirkt es jedenfalls schon. Die sind heutzutage völlig verrückt nach Halloween.«
    »Halloween«, wiederholte ich beklommen. »Deswegen bin ich hier.«
    »Wegen Halloween ?« Er nahm die Zigarre aus dem Mund, starrte mich ungläubig an und brauchte eine ganze Weile, bis ihm einfiel, was ich meinen konnte. »Ach so. Unser kleines Gruselabenteuer damals. Das war ganz schön verrückt, was?«
    »Das war es allerdings.«
    »Schon ’ne ganze Ecke her. Das müssen jetzt …«
    »Sieben Jahre«, sagte ich. »Es war vor genau sieben Jahren.«
    Er hielt inne, rechnete nach. »Ja. Stimmt.«
    »Sieben Jahre. Du weißt doch, was in den Märchen über einen Pakt mit dem Teufel steht – nach sieben Jahren kommt er und holt deine Seele.«
    Norbert sah mich forschend an, suchte nach Zeichen beginnender Geistesgestörtheit und fing schließlich an, breit zu grinsen. »Du vergisst, dass damals Halloween war. Und an Halloween kann man den Teufel um Beistand bitten, ohne dass es einen die Seele kostet.« Er beugte sich vor, streifte die

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