Eine unberührte Welt
Auffahrt verteilt wie feiner, körniger Nebel, den der Wind verwehte in Richtung des Waldes.
Erst jetzt kam es mir zu Bewusstsein, wie nahe dieses Haus jenem Wald, jener Lichtung war. Der Ort war gewachsen, nicht zuletzt durch Norberts Anstrengungen, und schließlich hatte er seine Villa hierhin gebaut, als wäre er einer Kraft entgegengegangen, der er ohnehin niemals hätte entkommen können.
Mit dem Auto waren es keine fünf Minuten. Ich fuhr so weit in den Wald hinein, wie ich konnte, sah wieder dieses böse, hungrige Licht und wusste, dass es von der Lichtung kommen musste. Als ein umgestürzter Baum den Weg versperrte, ließ ich den Wagen stehen, schlug mich quer durch das Gebüsch, ließ mich von Ästen schlagen und zerkratzen. Ich hatte nicht die Spur einer Idee, was ich dort auf der Lichtung machen würde, aber ich rannte, als gelte es mein Leben.
Erst als ich den Schrei hörte, blieb ich stehen.
Es war ein Schrei, der einem das Herz im Leibe stehenbleiben lassen konnte, ein Schrei von so unmenschlicher Fremdheit, von so entsetzlicher Verzweiflung, dass man zu Stein erstarren wollte vor Grauen. Keines Menschen Ohr hat jemals einen solchen Schrei gehört, wenn es überhaupt mein Ohr war, das diesen Schrei vernahm, und nicht mein Herz. Ich blieb stehen und wusste, dass es vorbei war. Im nächsten Augenblick erlosch das Licht.
Ich weiß nicht, was dann geschah. Ich erinnere mich, dass ich zusammengekauert neben einem Baum hockte, als es hell wurde, frierend und bis auf den Grund meiner Seele erschöpft. Nebel hing zwischen den Bäumen, und Wasser tropfte von den Ästen herab. Ich schritt die Lichtung ab, auf der das Gras bleich und tot war und zerfiel, wenn man es berührte. In der Mitte war der Boden kahl und verbrannt, von einem alten, verwitterten Lagerfeuer vielleicht oder weil die Erde sich aufgetan hatte, um jemanden zu verschlingen. Ich sah Spuren, die Kratzspuren von Fingern hätten sein können von jemand, der über den Boden geschleift wird und sich mit aller Kraft dagegen wehrt.
Neben den Kratzspuren fand ich ihn dann, den Ring. Ein dicker, goldener Ehering. Irmina 23.4.1993 stand darin eingraviert. Ich steckte ihn in die Tasche und ging.
»Eine vorgetäuschte Entführung«, war sich der Kommissar sicher, der mich befragte und mit meinen kargen Auskünften zufrieden war. »Gegen Norbert Brandes laufen seit längerem Ermittlungen wegen Bestechung, Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung. Er ist vermutlich untergetaucht.«
Meine Hand schloss sich um den Ring in meiner Tasche, und ich sagte nichts.
Am nächsten Tag kündigte ich in meiner Firma, ging zur Bank, löste mein Aktiendepot auf, schloss eine Lebensversicherung zu Fabiennes Gunsten ab, die sie für den Rest ihres Lebens absichern würde, erledigte dies und das und legte am Abend eine dicke Mappe auf den Tisch, auf der ein bunter Globus prangte.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Die Unterlagen für eine Weltreise. Lass uns nicht länger damit warten«, sagte ich und hoffte, dass sie die Angst nicht spürte, die wie eine eiserne Last auf meinem Herzen lag. Ich wollte tun, was in meiner Macht stand, damit sie niemals etwas davon spüren würde in dem Jahr, das mir noch blieb.
© 2000 Andreas Eschbach
Der Mann aus der Zukunft
Da wir gerade von Weltreise sprachen – auch die folgende Kurzgeschichte hat eine langen, verschlungenen Weg zurückgelegt.
Geschrieben habe ich sie im Jahr 1994. Dass man damals höchst beeindruckt war vom Herannahen des echten, wirklichen, wahrhaftigen Jahres 2000 ist ihr, glaube ich, noch anzumerken – inzwischen liest man sie eher mit einem Schmunzeln darüber, was für Ängste und Hoffnungen wir einst mit diesem magischen Datum verbunden haben.
Das Jahr 1994 war für mich in vielerlei Hinsicht ein Schicksalsjahr. Unter anderem hatte ich Anfang des Jahres einen Verlag gefunden, der willens war, meinen ersten Roman zu publizieren (die Rede ist vom Schneekluth Verlag, München, bei dem im Jahr darauf »Die Haarteppichknüpfer« erscheinen sollte). Im Lauf des Jahres war der entsprechende Vertrag unterzeichnet worden, das Lektorat war abgeschlossen, das Jahresende nahte und damit die alljährliche Notwendigkeit, zu Weihnachten von sich hören zu lassen. Mir kam die Idee, das mit dem »von sich hören lassen« wörtlich zu nehmen und eine Cassette mit einer selbstgesprochenen Kurzgeschichte an Freunde, Verwandte und auch an die wenigen Leute aus der Verlags- und Buchszene zu verschicken, die ich bis
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