Eine unberührte Welt
öffnete die Tür weiter, einladender.
»Entschuldigen Sie. Ich war etwas überrascht. Ich hatte niemanden erwartet …«
Der Fremde lächelte verzeihend und trat ein. »Haben Sie Gläser?«, fragte er und begann, das Silberpapier vom Verschluss der Sektflasche zu wickeln.
Brück eilte in die Kochnische, um zwei Saftgläser aus dem überfüllten Abtropfgestell zu klauben. Der Kloß in seiner Kehle war ungeheuer. »Hat sie«, begann er und musste elend schlucken, »hat sie Ihnen gefallen?«
»Sehr«, sang der Mund des Fremden. »Ich war ungeheuer beeindruckt.«
Brück hätte heulen können vor Glück. »Wirklich? Sie hat Ihnen wirklich gefallen?«
»Ja. Wirklich«, meinte sein unbekannter Gast. Damit ließ er den Korken knallen, goss die beiden Gläser gleichmäßig voll und nötigte ihn mit einer Handbewegung, eines davon zu nehmen.
Die Erzählung … Es war eine kleine, ziemlich autobiografische Erzählung über einen jungen Verkäufer, der, eingebunden in einen immer gleichen Alltag, nur wie durch die Sichtluken einer Festung mitbekommt, wie sich draußen die Welt verändert und allmählich vor die Hunde geht. Die Veröffentlichung dieser kleinen Geschichte hatte ihn den größten Teil des vergangenen Jahrs über beschäftigt. Letztes Silvester hatte er begonnen, sie zu schreiben, und Ende Februar war er damit fertig gewesen. Im März hatte er allen Mut zusammengenommen und sie an den Herausgeber der »Wilden Blätter« gesandt, der einzigen Literaturzeitschrift der Stadt. Im April hatte er einen Brief bekommen, den er immer noch aufbewahrte: dass man sie veröffentlichen werde, in der Juli-Ausgabe! Dann hatte es allerlei Hin und Her gegeben; beinahe wöchentlich waren neue Depeschen gekommen, die ihn abwechselnd von höchsten Höhen der Ekstase hatten abstürzen lassen oder umgekehrt ihn aus den tiefsten Tälern der Verzweiflung wieder ans Licht holten: Man könne die Erzählung – leider – doch nicht veröffentlichen. Doch, man werde sie veröffentlichen, aber es seien da noch einige Punkte, die überarbeitet werden müssten. Und er überarbeitete, wieder und wieder, schlug sich Nächte um die Ohren und verbrachte sonnige Wochenenden darüber, bis das Manuskript schließlich endgültig angenommen war und in der Septemberausgabe gedruckt erscheinen sollte. Das waren noch einmal qualvolle Monate, in denen er unruhig schlief und ständig überlegte, wie die Leute, die er kannte, auf die Veröffentlichung reagieren würden. Was man ihn fragen würde. Was er antworten konnte.
Und dann, endlich, war es September, und die »Wilden Blätter« lagen in den Buchhandlungen, und seine Erzählung war sogar auf dem Titelblatt angekündigt, in der dritten Zeile von unten. Er zitterte am ganzen Leib, als er – obwohl er wusste, dass er ein Belegexemplar bekommen sollte (das er dann doch nicht bekam) – ein Heft kaufte, aufschlug, seine Erzählung suchte und fand und las.
Und weiter geschah nichts. Der September ging, der Oktober dazu, und dann erschien schon die Novemberausgabe, ohne dass irgendjemand von der Erzählung Notiz genommen hatte.
Jetzt war das Glas etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er nahm einen Schluck, einen tiefen Schluck, und war dann selber überrascht über das, was aus ihm herausbrach. »Ich würde gern mehr schreiben, viel mehr. Es ist so viel in mir, dass ich manchmal das Gefühl habe, zu platzen. Ich würde gern … ich würde gern einen Roman veröffentlichen …«
Er schwieg erschrocken. Das war schon beinahe, ja, Blasphemie. Aber der fremde Gast nickte nur gelassen, als habe er nichts anderes erwartet.
»Das werden Sie«, sagte er. »Und nicht nur einen.«
»Glauben Sie?«
»Ja. Sie werden viele gute Bücher schreiben, die von vielen Menschen gelesen werden.«
»Wie können Sie das mit einer solchen Sicherheit sagen? Sie kennen mich doch kaum.«
»Ich kenne Ihre Erzählung. Rings um dieses Hutgeschäft, das Sie beschreiben, bricht mehr oder weniger die ganze Zivilisation zusammen, während der Verkäufer aus dem Fenster lugt und auf Kundschaft wartet. Sie sehen die Zukunft zu düster.«
»Aber so ist es doch. Schauen Sie sich doch um in der Welt – wir vergiften die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, den Boden, auf dem wachsen soll, was wir essen. Und es sind sechs Milliarden Menschen, die essen wollen, und nichts – außer einem Atomkrieg vielleicht – wird verhindern, dass sich diese Zahl noch verdoppelt. Man nennt es Wirtschaftskrise, aber in Wirklichkeit
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