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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Zigarrenasche in einen schweren, teuer aussehenden Aschenbecher und grinste noch breiter. »Das ist wie mit dem Finanzamt. Man muss die Schlupflöcher kennen, dann kommt man davon.«
    »Aber man darf sich nicht verschätzen dabei, oder?«
    »Richtig. Sonst kann man am Ende ziemlich blöd dastehen.«
    Ich nickte und faltete die Hände. Wie zum Gebet. »Wir benutzen«, sagte ich, »heute den Gregorianischen Kalender. Er wurde von Papst Gregor dem Dreizehnten eingeführt, weil der Julianische Kalender, der bis dahin gegolten hatte, zu ungenau war. Die Einführung geschah, indem auf den 4. Oktober 1582 der 15. Oktober folgte – die zehn Tage dazwischen fehlen. Es hat sie nie gegeben. Um diese zehn Tage ist der Kalender verschoben worden.«
    »Macht man sich in der Softwareindustrie neuerdings über solche Dinge Gedanken?«
    »Verstehst du nicht? Du kannst nicht davon ausgehen, dass Halloween – das wirkliche Halloween, das keltische Samhain – tatsächlich dem 31. Oktober unseres heutigen Kalenders entspricht. Die Kalender sind alle gegeneinander verschoben, der gregorianische gegen den julianischen, und der keltische … Ich weiß nicht, was für einen Kalender die Kelten hatten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Samhain tatsächlich mit unserem 31. Oktober identisch ist, steht mindestens dreißig gegen eins.«
    Norbert sog an seiner Zigarre wie ein hungriges Baby an seiner Flasche, versuchte einen Rauchring zu blasen, brachte aber bloß eine verzitterte Wolke zu Stande. »Man könnte meinen, du glaubst den ganzen Quatsch wirklich.«
    »Irmina hast du gekriegt, oder? Und reich bist du auch geworden.« Ich hätte noch mehr sagen können, etwas, von dem er nichts wusste, aber ich behielt es für mich.
    Die Türglocke unterbrach uns mit einer Folge tiefer, melodischer Gongschläge. Norbert legte die Zigarre weg und stand auf. »Das geht heute schon den ganzen Abend so«, sagte er, griff nach einem bereitstehenden Korb voller Süßigkeiten und ging hinaus. Man hörte das Gekicher und Gegacker von Kindern, als er die Haustür öffnete.
    »Was meinen Reichtum anbelangt«, sagte er danach, »den habe ich mir hart erarbeitet. In jedem Stein dieses Hauses stecken mein Blut, mein Schweiß und meine Tränen. Du warst immer angestellt, du weißt nicht, wie das ist als Unternehmer … Und Irmina? Ich habe sie gewonnen, weil ich hartnäckig war. Und ehrlich. Ich habe sie damals angerufen, weißt du, kurz bevor all diese Dinge passiert sind, und habe ihr Glück gewünscht, und dabei habe ich ihr einfach gesagt, dass ich der Richtige für sie bin, meine ehrliche Meinung. Ich glaube, das war es, was den Ausschlag gegeben hat.«
    Ich weiß nicht mehr, was wir an dem Abend noch im Einzelnen redeten. Er holte eine Flasche Wein und dann noch eine, und irgendwann waren wir wieder bei Grundstückspreisen und Zinssätzen. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie spät es war, als es zum letzten Mal an der Haustür klingelte, aber jedenfalls murrte Norbert etwas wie »unglaublich, dass manche Leute ihre Kinder so spät abends noch durch die Gegend rennen lassen«, als er mühsam aufstand und mit dem fast geleerten Korb hinausschlappte.
    Das Erste, was ich wahrnahm, war, dass das Leder der Couch knisterte. Als wolle sich die Füllung darin ausdehnen. Dann sah ich, wie etwas mit dem Teppich geschah, und das Gras fiel mir wieder ein, das sich aufgerichtet hatte, als bekäme die Erde Gänsehaut, damals.
    »Norbert?«
    Jedes einzelne Atom der Luft schien mit einem Mal im Bann eines übermächtigen Kraftfeldes zu stehen, die dunstigen Rauchpartikel darin sich im Rhythmus eines übermenschlichen Pulsschlags zu bewegen. Ich stand auf, bewegte mich zur Tür, als sei mein Körper nicht mehr meinem Willen unterstellt. Ich glaubte ein Geräusch zu hören, das klang wie das schwere Atmen eines Millionen Jahre alten, Millionen Tonnen schweren Wesens.
    Es kam aus der Vorhalle. Die Haustür stand offen. Der Korb lag auf dem Boden, die Bonbons in weitem Umkreis verstreut. Ein fahles, abscheuliches Licht fiel von draußen herein, ein Licht, das den Farben die Kraft zu stehlen schien, das eine graue Spur in die Welt fraß, wo immer es auftraf.
    Als ich auf die Haustür zuging, entfernte es sich, langsam und schwankend.
    Ich schwöre, die Spur, die später auf dem Marmor des obersten Absatzes eingepresst gefunden wurde, war der Abdruck eines Hufes, und seine Ränder brannten noch, als ich daran vorbeikam. Das Licht löste sich auf, war rund um die Villa und die

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