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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Geschichte gern in der Silvesterausgabe 1995 der ZEIT veröffentlichen.
    – Gern, sagte ich höchst begeistert. In der ZEIT, man bedenke! Das baute mich auf, der ich seit Erscheinen meines Romans (und erst recht seit Erhalt der ersten Tantiemenabrechnung) das Gefühl nicht los wurde, damit den Flop des Jahres gelandet zu haben.
    – Allerdings, fuhr er fort, müsse sie dafür gekürzt werden; mehr als eine Zeitungsseite sei nicht drin.
    – Oh, sagte ich mit etwas gedämpfterer Begeisterung. Und wieviel?
    – Auf die Hälfte, sagte er.
    Auf die Hälfte! Gut, dass die Unterhaltung per Compuserve-Mail erfolgte; ich hätte möglicherweise etwas Dummes gesagt. So überschlief ich die Sache – und sagte zu. Und machte mich an die Arbeit.
    Das war richtig hart. Ich glaube, ich brauchte zum Kürzen länger, als ich gebraucht hatte, das Ding zu schreiben. Ich strich Füllwörter. Das brachte fast gar nichts. Ich dampfte Passagen ein. Das brachte wenig. Ich teilte den Text in Abschnitte auf, sagte mir, wenn ich jeden Abschnitt auf die Hälfte kürze, erreiche ich die geforderte Länge, ohne die Geschichte aus dem Gleichgewicht kommt. Ich begann irgendwann, Episoden zu streichen, Figuren, Wendungen, ganze Handlungsfäden … Ich hatte das Gefühl, das Ding zu massakrieren. Ich hatte das Gefühl, zu bluten.
    Aber ich schaffte es irgendwie, und an Silvester 1995 erschien die Geschichte auf der letzten Seite der ZEIT, zusammen mit einer hübschen, wirklich passenden Grafik.
    Wäre hier nun die Gelegenheit, die Urfassung zu veröffentlichen? Endlich?
    Ja – bloß: Die gefällt mir inzwischen gar nicht mehr so gut. Die Magie des Kürzens hat gewirkt. Überlassen wir die Urfassung deshalb jenen 50 Cassetten, von denen einige noch irgendwo existieren mögen, und der Geschichte …
     
    Er stand am Fenster, so dicht, dass er die Kühle der Scheibe auf der Haut spürte. Sie beschlug von seinem Atem, während er hinabstarrte in den schmutzigen Hinterhof. Wieder einmal ein Silvesterabend ohne Schnee. Die kleine orangerote Lampe, die den Hof erhellte, wackelte im Wind, und ein Gemisch aus Regen und verirrten, hoffnungslosen Schneeflocken huschte nebelartig durch ihren Lichtkegel. Auf einer der Mülltonnen lag ein Stapel alter Zeitungen; offenbar hatte jemand auf diese Weise mit dem vergangenen Jahr abgerechnet.
    Man müsste eine Geschichte darüber schreiben, dachte Brück. Eine Geschichte über einen Mann, der am Silvesterabend einsam an einem schmierigen Fenster steht, durch alte graue Gardinen auf einen hässlichen Hinterhof hinausschaut und davon träumt, Schriftsteller zu werden. Gleichzeitig bringt er es nicht über sich, vom Fenster weg und zurück an den Computer zu gehen, weil ihn die Aussicht lähmt, wieder etwas zu schreiben, was keiner lesen, keiner haben, keiner drucken will.
    Dabei hätte er heute Abend die Zeit und Besinnlichkeit gehabt, nach der er sich sonst das ganze Jahr über sehnte, heute, da die Stadt in beschaulicher Stille lag und alle zu Hause saßen bei ihren Familien …
    In diesem Moment klingelte es.
    Es war ein Mann, blond und stämmig, der geradezu begeistert schien, ihn zu sehen. Und er hielt eine Flasche Sekt in der Hand. »Herr Brück?«, fragte er mit leuchtenden Augen. »Peter Brück?«
    »Ja«, gab Brück zu.
    »Mein Name ist, ähm, Hans Schmidt«, erklärte der Fremde. »Ich bin heute Abend eingezogen«, – er machte eine unbestimmte Geste, die in die nach gedünstetem Kohl riechenden Tiefen des Hauses gerichtet war –, »nur ein Koffer und die Matratze … Dachte, ich frage Sie mal, ob Sie nicht Lust haben, diese Flasche mit mir zusammen niederzumachen?«
    »Hmm«, machte Brück. Das Ansinnen war ihm unangenehm. Bisher hatte er allzu enge Kontakte mit anderen Bewohnern des Hauses sorgfältig gemieden, weil ihm diese, geradeheraus gesagt, herzlich unsympathisch waren.
    »Ich will mich nicht aufdrängen«, erklärte der andere, als Brück zögerte. »Ich habe die Erzählung gelesen, die Sie letzten September veröffentlicht haben, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, Sie persönlich kennenzulernen.«
    Brück hatte das Gefühl, seine Augäpfel zu unnatürlicher Größe anschwellen zu spüren. Plötzlich glaubte er zu verstehen, was die Chronisten des Mittelalters gemeint hatten, wenn sie von Verklärung sprachen: Ein unirdischer, geradezu göttlicher Glanz schien mit einem Mal von dem Mann auf dem Gang auszugehen, und der Klang seiner Stimme war plötzlich süße, himmlische Sphärenmusik. Er

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