Eine unberührte Welt
wird einfach um die letzten Reste Leben gekämpft. Und wir, die wir nichts abbekommen, betrinken uns, nehmen Drogen oder tanzen uns bei hypnotischer Musik zu Tode.«
»Und das gerade zum Jahr 2000, wie passend.«
Brück sah seinen Gast irritiert an. »Wie bitte?«
»Ich habe nur überlegt, was für ein merkwürdiger Zufall es ist, dass das Ende der Menschheit gerade zusammenfallen soll mit dem Ende eines Jahrtausends.«
Brück musterte den Unbekannten, der da auf seinem abgewetzten Sofa saß und zufrieden lächelte. Diese Wendung des Gesprächs kam ihm reichlich seltsam vor. »Das haben Sie sich aber nicht gerade jetzt ausgedacht.«
»Nein, zugegeben. Ich arbeite über die Jahrtausendpsychosen der Menschheit.«
»Jahrtausendpsychosen?«
»Religiöser Wahn. Exzesse. Hysterie. Gewalttätigkeiten. Endzeitstimmung. Kurz – die Angst, die das kollektive Unbewusste zu allen Zeiten erfasst, wenn ein neues Jahrtausend anbricht.«
»Hmm«, machte Brück. »Originell. Eine originelle Variante des Versuchs, die Realität nicht sehen zu müssen.«
Der Fremde sah ihn mit einem unergründlichen Lächeln an und schwieg einen Moment, als müsse er sich die Munition seiner Argumente zurechtlegen. »Wandern Sie doch einmal«, forderte er ihn schließlich auf, »in Gedanken die imaginäre Reihe der Jahre entlang, oder wie immer Sie sich die Zeit vorstellen. Ist es nicht so, dass Sie eine beinahe körperliche Empfindung haben, wenn Sie das Jahr 2000 überschreiten? Eine Art geistige Kerbe, als würde man mit der Zunge über die Zähne tasten und ein Loch erspüren?«
»Hmm«, machte Brück widerwillig. »Ja.«
»Und nun frage ich Sie: Warum ist das so, wenn wir doch angeblich nicht an die Magie der Zahlen glauben? Die Antwort ist, dass in unseren endlosen seelischen Tiefen Zahlen etwas Magisches sind, sich an ihnen der Willen der Götter offenbart. Deshalb spüren wir Jahrhunderte und Jahrtausende am ganzen Körper.«
»Das mag ja sein«, meinte Brück. »Aber die Fakten reichen auch ohne Ihre Zahlenmagie für eine handfeste Endzeitstimmung.« Um überhaupt etwas zu tun, beugte er sich vor und schenkte nach. Er betrachtete die Flasche. Der Sekt war eine Marke, die er nicht kannte – was nichts heißen mochte –, und das Etikett wirkte sehr edel und teuer – was auch nichts heißen mochte –, aber irgendetwas irritierte ihn daran.
»Glauben Sie nicht, dass Fakten durch Überzeugungen erst geschaffen werden?«
»Nein. Ich bin der ganz altmodischen Ansicht, dass Überzeugungen auf Wahrnehmung von Fakten beruhen sollten.« Brück kam nicht darauf, was ihn an der Sektflasche so beschäftigte. Er stellte sie zurück auf den Tisch.
Der Fremde lächelte. »Nehmen Sie sich selbst: Wie weit reichten die Zukunftsprognosen, die Sie von Ihrer frühesten Jugend an gehört haben? Immer nur bis zum Jahr 2000, nicht wahr? Das heißt, mit derselben Hartnäckigkeit, mit der man Ihnen das Alphabet eintrichterte, brachte man Ihnen bei, dass das Jahr 2000 das Ende der Zeitrechnung ist.«
»Bilde ich mir denn die Übervölkerung ein? Ist die Umweltverschmutzung eine Ausgeburt meiner Fantasie?« Brück starrte immer noch die Sektflasche an. Vorhin war sein Auge an irgendeinem Detail, einem bedeutsamen Detail, hängengeblieben.
»Nein. Was ich behaupte, ist, dass die Angst vor dem Ende des Jahrtausends die Menschen lähmt. Am Neujahrstag des Jahres 2000 werden die Menschen aufwachen und unfassbar erleichtert sein: Endlich hat das lange Zittern ein Ende, endlich liegt wieder ein unauslotbar großer Zeitraum vor ihnen wie weites, jungfräuliches Land.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es.«
»Sie wissen eine ganze Menge«, meinte Brück abwesend, und plötzlich fiel sie ihm wieder auf, die merkwürdige Einzelheit, die ihn vorher stutzig gemacht hatte. Er nahm die Sektflasche in die Hand und las das Etikett. »Jahrgangssekt 1999 …«
Er sah auf und sah in die Augen seines Gegenüber. Erschrockene Augen. Er sah den Gesichtsausdruck eines Mannes, der tödlich erschrocken war über einen Fehler, der ihm nicht hätte passieren dürfen.
Dieser Gesichtsausdruck, nur eine Hundertstelsekunde lang, verriet ihm alles. In diesem magischen Moment war es, als lüfte eine Gottheit einen Schleier, um ihn ungeahnte Geheimnisse schauen zu lassen.
»Jahrgangssekt 1999 …«, wiederholte Brück langsam. Es klang weder anklagend noch ahnungsvoll. Er stellte nur Tatsachen fest, mit kühler, leidenschaftsloser Genauigkeit. »Sie haben einen
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