Eine undankbare Frau
vergangen. Margrete war unversehrt und quicklebendig. Aber jetzt kamen andere Gedanken, auf die sie nicht vorbereitet war. Warum gerade hier, in unserer Nachbarschaft? Warum gerade wir, in unserem Garten, und unser Kind? Etwas so Schreckliches konnte kein Zufall sein, denn sonst wäre es einfach unbegreiflich.
»Nicht verdient«, sagte sie. »Aber vielleicht haben wir etwas getan, das jemandem missfallen hat.«
»Wir führen unser Leben«, entgegnete Karsten. »Wir tun Dinge, die auch alle anderen tun. Wir sind anständige Menschen.«
Lily versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wenn sie ihren Atem kontrollieren könnte, würde auch ihr Herz zur Ruhe kommen, aber es wollte nicht zur Ruhe kommen.
»Vielleicht hat er uns beobachtet«, flüsterte sie. »Hast du dir das mal überlegt? Vielleicht stand er hinter einem Baum, während ich da auf dem Boden lag und um mich schlug. Ich habe nicht zu den Bäumen hochgesehen. So weit habe ich gar nicht gedacht.«
Sie stützte sich wieder auf den Ellbogen.
»Hast du etwas gesehen? Hast du etwas gehört?«
Karsten ging in Gedanken noch einmal die lähmenden Sekunden durch. Er lauschte seinen eigenen Erinnerungen, ob dort etwas zu holen war, das ihn auf die richtige Spur bringen könnte.
»Doch«, fiel ihm plötzlich ein, »ich habe etwas gehört. Da war etwas im Wald. Es gibt doch diesen Weg nach Askeland, den die Forstarbeiter benutzen. Es könnte eine Motorsäge gewesen sein.«
»Eine Motorsäge?«, wiederholte sie enttäuscht. »Das hilft uns nicht weiter.«
Karsten dachte erneut nach und schnippte dann mit den Fingern.
»Nein«, sagte er. »Das war keine Säge. Es könnte ein Moped gewesen sein.«
D ie Postkarte, die Sejer auf der Fußmatte gefunden hatte, war aus dünnem, billigen Papier mit glänzender Oberfläche. Das Bild des Vielfraßes faszinierte ihn. Im Bücherregal hatte er das dreizehnbändige Große Norwegische Lexikon von Aschehoug und Gyldendal aus dem Jahr 1984 , und er ging davon aus, dass der Vielfraß dort in Bildern und Worten vertreten sein würde. Er fand ihn auf Seite 495.
»Vielfraß. Der Gulo Gulo ist hierzulande die größte Raubtierart aus der Familie der Marder. Er wird im nördlichen und westlichen Norwegen auch Fjellfross, Bergkater, genannt. Der Vielfraß ist ein Sohlengänger. Sein Kopf ist massiv, der Schwanz kurz und buschig. Er hat schwarzbraunes Fell und eine gelbliche Bandzeichnung, die sich über die Seiten des Rumpfes zieht. Er is t ungefähr so groß wie ein Vorstehhund und sehr kräftig. Der Vielfraß hält sich vor allem im Hochgebirge auf, aber vermutlich war er ursprünglich ein Waldtier.
Der Vielfraß ist ein listiger und wachsamer Jäger. Im Winter lebt er von jungen Rentieren, im Sommer reißt er vermutlich auch Schafe und kleinere Nagetiere. Seltener Hase und Fuchs, Schneehuhn und größere Vögel. Im Februar/März bringt das Weibchen etwa zwei bis drei Junge zur Welt. Seinen Bau legt er zumeist in einer Schneehöhle vor einer niedrigen Felswand in unwegsamem Gelände an. Der Bestand wurde 1965 auf etw a 150 Tiere geschätzt. In Südnorwegen bis hoch nach Süd-Trøndelag steht der Vielfraß unter Naturschutz.«
Dann sah Sejer sich mit großem Interesse das Farbfoto an.
Der Vielfraß hatte von allem ein bisschen, er sah aus wie ein Hund, wie ein Marder und wie eine Katze. So willst du also sein?, fragte Sejer … Wie ein seltenes, unter Naturschutz gestelltes und vor der Ausrottung bedrohtes Raubtier? Ein listiger und wachsamer Jäger? Er klappte das Lexikon zu, stellte es zurück ins Regal und nahm das Telefon. Karsten Sundelin nahm schon nach dem ersten Klingelton ab. Er hatte sich Urlaub genommen, um bei Frau und Kind zu sein. Beide waren noch wie benommen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sejer.
»Na, was glauben Sie?«, gab Karsten Sundelin zurück.
Seine Stimme klang bitter und messerscharf.
»Lily fühlt sich nicht mehr sicher«, sagte er. »Und wer weiß, ob sich das je wieder ändern wird. Diese Geschichte hat so viel kaputt gemacht. Um es mal so auszudrücken.«
»Und Margrete?«, fragte Sejer vorsichtig.
»Sie wird davon auch nicht unbeeinflusst bleiben«, sagte Karsten Sundelin. »Auf die ein oder andere Weise. Unsere Unruhe überträgt sich doch auch auf ein Kind, oder?«
Sejer überlegte eine Weile.
»Gibt es bei Ihnen in der Nähe eine Buchhandlung?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Sundelin. »Keine Buchhandlung. Da muss man zum nächsten Einkaufszentrum fahren, das liegt in Kirkeby. Wir
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