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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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ein ganzes Stück weit ganz gut darauf balancieren, aber wenn man weiter ging, bis zum Tor in der Mitte zum Beispiel, da wurde es ernst. Das Tor an sich war vergittert und das Gitter war immer abgeschlossen. Nur die Arbeiter, die für die Wartung des Dammes zuständig waren, hatten einen Schlüssel. Aber es war durchaus möglich, über das Gitter zu klettern, um dann bis zum andere Ende des Dammes zu gelangen. Falls man das Geräusch des schäumenden Wassers unter sich ertragen konnte, ohne die Beherrschung zu verlieren. Johnny starrte hinunter in das schwarze Wasser. Der Gedanke, was er in Gang gesetzt hatte, erregte ihn. Dass sogar so ein Hänfling wie er so eine Macht haben könnte, und er war klein, er war erst siebzehn und er hatte kaum Muskeln. Aber er verfügte über eine große Begabung. Und die war sehr gut dafür geeignet, andere zu ärgern.
    Er setze sich auf die Mauer und starrte auf den Stausee. Er hörte wie das Wasser durch das Rohr donnerte. Nachdem er fünfzehn Minuten dort gesessen hatte, balancierte er zurück ans Ufer und erreichte sicher das trockene Land. Er wusste, dass der See das Trinkwasser für viele tausend Menschen lieferte, denn das Wasser, das durch das schwarze Rohr schoss, endete in den Wasserhähnen der Leute.
    Deshalb pisste er ins Wasser, ehe er weiterfuhr.
    Johnny Beskow hatte einen Großvater, der in Bjørnstad wohnte.
    Der Großvater hieß Henry Beskow und hauste in einer Sackgasse namens Rolandsgate. Gleich neben dem Haus des Großvaters, dem letzten in der Straße und zugleich ältesten, lag eine kleine Felskuppe, und auf dieser Felskuppe saß ein Mädchen und beobachtete ihn, als er auf dem Moped angesaust kam. Er hatte es schon oft gesehen, denn es saß oft auf der Kuppe und beschimpfte alle, die vorbeikamen. Das hier war offenbar seine Straße, sein Territorium. Es war schmächtig und blass und sommersprossig, er schätzte es auf zehn, aber das Imposanteste an ihm war der feuerrote Zopf, der ihm bis zum Hintern reichte. Es grinste ihn an, mit Vorderzähnen so groß wie Zuckerstücke.
    »Preiselbeerkopf«, rief es.
    Sie meinte den roten Helm. Johnny bremste, hielt an und sah aus zusammengekniffenen Augen zu ihr hoch. Er versuchte, seinen Blick zu einem bedrohlichen Strahl zu bündeln. Aber sie hatte offenbar vor gar nichts Angst. Du weißt es eben nicht besser, dachte Johnny. Wir sprechen uns noch, du sommersprossiges kleines Drecksstück. Er ignorierte sie und fuhr das letzte Stück zum Haus des Großvaters, hielt an und hängte den Helm an den Lenker. An der Fußmatte wischte er sich die Schuhe ab und betrat das kleine Haus. Der alte Mann, der nur unter großen Mühen laufen konnte, saß in einem Sessel am Fenster. Seine Füße lagen auf einem Schemel, und er war eingehüllt in eine flauschige Decke. Die Gicht hatte seine Finger zu schmerzenden Klauen verformt. Johnny Beskow holte sich einen Puff und zog ihn an den Sessel heran.
    »Hallo, Opa«, sagte er.
    Henry drehte den Kopf zu ihm. Seine Augen tränten und waren von geplatzten Äderchen durchzogen.
    »Hallo, Junge. Schön, dass du vorbeikommst.«
    »Hast du heute schon was gegessen?«, fragte Johnny.
    Henry nickte.
    »Mai war heute morgen hier«, sagte er.
    Johnny versuchte, sich auf dem weichen Kunststoffpuff bequem hinzusetzen.
    »Wie ist sie denn so? Macht sie alles richtig? Ist sie nett?«
    »Mai ist ein Engel«, sagte Henry Beskow. »Das muss einfach mal gesagt werden. Sie ist ziemlich dunkelhäutig und ihr Norwegisch ist nicht so gut, sie kommt ja aus Thailand. Aber die Thais, weißt du, die sind immer so freundlich und erledigen alles mit einem Lächeln. Ich hätte keine Bessere finden können als Mai. Oft habe ich schreckliche Angst, ich könnte sie verlieren«, sagte er und sah besorgt aus. »Den Leuten von der Gemeinde kann man doch nicht trauen. Dauernd müssen die alles neu organisieren. Und wollen Geld sparen.«
    »Hast du deine Medizin genommen?«, fragte Johnny.
    »Ja. Alles«, sagte der Alte. »Ich bin wie ein braver Hund, weißt du, ich habe ja auch keine Kraft mehr, um zu protestieren. Wer von anderen abhängig ist, wird fromm wie ein Lamm.«
    Die verkrüppelten Hände strichen über die Decke und zupften an einigen Fransen.
    »Soll ich dir aus der Zeitung vorlesen?«, fragte Johnny und nickte zu dem Tisch, auf dem die Lokalzeitung lag.
    »Ja, das wäre nett von dir.«
    Johnny holte die Zeitung und setzte sich bequemer hin. Er las einen Artikel nach dem anderen vor, mit klarer und deutlicher Stimme,

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