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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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einen. Er trug ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn auf den Tisch. Dann stellte er sich ans Fenster und sah hinaus auf die Straße.
    »Wer ist das Mädchen mit den roten Haaren?«, fragte er.
    Henry würgte und hustete, denn er hatte sich verschluckt.
    »Das ist die Jüngste von den Meiners, glaube ich. Sie heißt Else. Sie wohnen in dem gelben Haus da unten. Siehst du die vielen Autowracks im Garten? Die stehen da schon seit fünfzehn Jahren rum. Meiner wollte sie wohl alle mal reparieren und verkaufen, aber da ist nie was draus geworden.«
    »Es ist nicht nett, dieses Mädchen«, sagte Johnny, mit der Nase dicht an der Fensterscheibe. Die beschlug von seinem Atem, und er zeichnete mit dem Zeigefinger einen Totenkopf.
    »Meinst du Else? Doch, die ist nett. Sie ist wie ein kleiner Wachhund«, sagte Henry. »Sie kontrolliert alles ganz genau, wer hier vorbeikommt und wer geht. Sie will genau wissen, was sie hier zu suchen haben, und dann johlt sie ihnen hinterher, wenn sie wieder verschwinden. Ich kann dir eins sagen«, sagte Henry, »wenn jemand mit bösen Absichten in mein Haus käme, dann würde Else Meiner sofort Alarm schlagen. Sie hat Augen wie ein Falke und schreit wie eine Elster.«
    Johnny setzte sich wieder auf den Puff.
    Lange saßen sie so schweigend nebeneinander.
    »Verzeih mir, dass ich so alt bin«, sagte Henry endlich mit einem langen Seufzer. »Verzeih mir, dass ich so langsam und unbrauchbar bin und nichts mehr tun kann. Und das wird ja auch nicht besser.«
    »Jetzt hör aber auf«, sagte Johnny streng.
    »Ich habe keine Angst vor dem Sterben.«
    »Das weiß ich.«
    »Oder hast du vielleicht Angst davor, abends schlafen zu gehen? Schlimmer ist das auch nicht. Wir gehen ins Bett und dann segeln wir davon.«
    Er hob eine Hand und strich sich mit den verkrüppelten Fingern die Haare aus der Stirn. Seine Lippen waren schmal und farblos, als ob das Leben langsam aus seinem Körper rann und alle Farbe und allen Glanz mit sich riss.
    »Du wirst noch lange nicht sterben«, sagte Johnny voller Überzeugung.
    Die bloße Vorstellung, dass es anders sein könnte, quälte ihn, denn er hatte den alten Mann gern und er hatte sonst niemanden. Niemand wartete auf ihn, niemand brauchte seine Dienste. Henry war schon fast wieder eingenickt. Johnny griff nach seiner Hand und hielt sie fest.
    »Opa«, flüsterte er. »Soll ich ein Fenster aufmachen, bevor ich gehe? Hier ist es so warm. Sonst bekommst du wieder Kopfschmerzen.«
    Der alte Mann öffnete ein Auge. »Lass mal, sonst kommen nur Wespen rein.«
    »Hast du Ratten im Keller?«, fragte Johnny.
    »Hatte ich früher. Jetzt nicht mehr. Mai hat sich darum gekümmert.«
    Johnny ließ Henrys Hand wieder los. Dann stand er auf und strich die Decke glatt.
    »Opa. Wann hat Mama mit dem Trinken angefangen?«, fragte er.
    »Kurz vor deiner Geburt«, antwortet der Großvater. »Sie hatte es nicht leicht, verstehst du. Damals sind viele schlimme Dinge passiert.«
    »Sie will nicht über meinen Vater reden«, beschwerte sich Johnny. »Sie will mir nicht sagen, wo ich herkomme.«
    »Lass die Geschichte ruhen«, sagte Henry. Er drehte sein Gesicht ein wenig zur Seite und schloss wieder die Augen. »Die Wahrheit ist nicht immer das Beste. Das kannst du mir glauben.«
    L ily Sundelin schob Margrete im Wagen spazieren, ihr Mann Karsten begleitete sie. Sie hielt den Griff des Wagens umklammert, Karsten hielt ihren Arm, näher konnten sie einander nicht sein. Es war Nachmittag. Die Sonne stand tief, sie brannte auf ihre Hinterköpfe. Margrete trug ein rotweißgestreiftes Strampelhöschen, sie sah aus wie eine kleine Zuckerstange, wie sie so in dem neuen Wagen lag.
    Sie verließen Bjerketun und gingen auf die Hauptstraße hinaus. Warteten, bis ein Wagen vorübergefahren war.
    »Weißt du, woran ich heute früh denken musste?«, fragte Lily. »Direkt nach dem Aufstehen. Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
    »Was denn?«, fragte ihr Mann Karsten.
    Er drückte ihren Arm.
    »An ihren Schnuller«, sagte sie. »Der war weg. Ihr rosa Schnuller.«
    Er beugte sich in den Wagen und streichelte Margretes Wange.
    »Bist du sicher?«
    »Ja. Er muss den Schnuller mitgenommen haben. Ist das nicht krank? Ich meine, wer klaut denn einen Schnuller? Ich verstehe das nicht.«
    Karsten hatte keine Antwort darauf. Aber sie sah, wie er die Lippen aufeinander presste. Das Geschehene hatte ihn verändert, über den einen Teil freute sie sich, der andere aber machte ihr Angst, zum Beispiel diese

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