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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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gut. Er sah, wie sie ihre Zähne hineinschlug, die spitze graue Zunge arbeitete energisch mit dem Hackfleisch. Und obwohl sie nüchtern war, obwohl sie aufrecht auf dem Stuhl stand, konnte er sehen, dass sie sich nach dem Gift sehnte, in dessen Abhängigkeit sie sich begeben hatte. Die Sucht riss und zerrte an ihr, machte sie rastlos und ihre Hände zittrig.
    »Du musst dir nen Job suchen«, sagte sie. »Ich kann dich nicht bis in alle Ewigkeit aushalten, Johnny. Warum willst du nur herumlungern, du bist doch jung und gesund?«
    Such dir doch selbst was, dachte er, sagte es aber nicht laut. Sie war Frührentnerin, und das schon seit Jahren. Viertausendsiebenhundertzwanzig Kronen. Dazu achtzehnhundert Kronen Kindergeld. Und ein bisschen Wohngeld. Diese erbärmliche Summe mussten sie sich zu zweit teilen. Wir sind arm, dachte Johnny Beskow niedergeschlagen, während er die Pizza aß. Die Vorstellung, sich eine Arbeit zu suchen, war allerdings nicht gerade verlockend, denn es würde bedeuten, dass andere Menschen ihn herumkommandieren würden. Und das konnte er nicht ertragen, bei der bloßen Vorstellung bekam er schon eine Gänsehaut. Er wollte sein eigener Herr sein, er wollte auf der Suzuki sitzen und frei sein. Außerdem war er erst siebzehn. Er durfte noch nicht an der Kasse sitzen und auch kein Auto fahren. Mich will doch niemand, dachte er zufrieden. Die Mutter nahm sich noch ein Stück Pizza. Sie riss mit langen weißen Fingern Käsefäden ab und er sah die schwarzen Ränder unter den Nägeln.
    »Als ich dich bekommen habe«, sagte sie und sah ihn über den Tisch hinweg an. »Als ich dich bekommen habe, habe ich zuerst meine gute Figur verloren. Danach den Schlaf und den Kontakt zu anderen Menschen. Es ist so seltsam, Kinder zu bekommen. Ihr seid immer da. Jeden Tag, den ganzen Tag. Gott bewahre.«
    »Ich ziehe bald aus«, sagte er vorsichtig.
    »Haha!« Sie brüllte vor Lachen. »Und wohin, wenn ich fragen darf? Was willst du dann essen, wovon willst du das bezahlen?«
    Johnny hielt ein Stück Pizza in der Hand. Es war heiß, er verbrannte sich die Finger, aber das war ihm egal. Er wusste ja, dass sie im Grunde Angst vor dem Alleinsein hatte. Wenn er seine Drohungen in die Tat umsetzte, wenn er seine Habseligkeiten in einen Sack stopfte und das Haus verließe, würde sie mit der Flasche in der Hand im Sessel sitzen und stumpf die Wände anstarren. Dann hätte sie niemanden mehr, auf den sie warten könnte, niemanden, bei dem sie sich ausheulen könnte, niemanden, den sie beschimpfen könnte. Keine anderen Geräusche mehr im Haus, nur ihre eigenen kreischenden Gedanken.
    »Ich ziehe zu Opa«, drohte er. Sie legte ihr Pizzastück hin und sah ihn an. Es war deutlich zu sehen, dass ihr diese Vorstellung zu schaffen machte.
    »Opa hat ein freies Zimmer«, fügte er hinzu.
    »Was willst du denn bei dem?«, fragte sie. »Der taugt doch zu nichts mehr. Da rennen ihm rund um die Uhr die Leute die Bude ein und er sitzt da mit den Füßen auf einem Schemel und lässt sich bedienen. Du bist da nur im Weg.«
    »Mai kommt morgens eine Stunde«, widersprach er. »Und abends kommt eine Pflegerin und gibt ihm seine Medizin. Das dauert so ungefähr fünfzehn Minuten. Mehr ist das nicht.«
    Sie stemmte die Ellbogen auf den Tisch, sie sah wütend aus.
    »Ja, das ist auf jeden Fall viel mehr, als was ich bekomme«, sagte sie.
    »Aber du hast ja auch kein Rheuma«, entgegnete er. »Du bist doch gesund.«
    Er wagte nicht, sie dabei anzusehen, denn er wusste, dass diese Äußerung sie wütend machte.
    »Gesund?«, fauchte sie. »Was weißt du denn davon? Ich soll gesund sein? Glaubst du, ich liege zum Vergnügen auf dem Sofa?«
    Er beschloss, dass es besser wäre, den Mund zu halten. Aber unter dem Tisch ballte er seine Faust und gestattete sich, Verachtung zu empfinden. Dadurch wurde ihm ganz warm und seine Augen glänzten.
    »Aber wenn er stirbt, erben wir wenigstens ein bisschen«, sagte sie plötzlich. »Er hat ja Geld.«
    Sie kaute und allein durch den Gedanken an das Geld bekam sie Farbe ins Gesicht.
    »Ich weiß nicht, wie viel es ist«, sagte sie. »Aber er spart. Kann ja auch nichts ausgeben. Und das wird uns zugute kommen. Warte nur ab.«
    Johnny sah sie entsetzt an. Er liebte den alten, langsamen Mann mit den verkrüppelten Fingern. Er konnte sich sein Leben nicht vorstellen, ohne den Zufluchtsort in der Rolandsgate, dem kleinen Haus, wo es immer so warm war, und die Gespräche über Gott und die Welt, die er mit dem alten

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