Eine undankbare Frau
erfährt«, befahl Holthemann. »Diese Freude wollen wir ihm nicht machen. Ansonsten ist bald die Rede vom Raubtier aus Bjerkås oder so, und sein Triumph wird noch größer. Von uns soll er verflixt noch mal nichts geschenkt bekommen. Hast du das Ehepaar Sundelin überprüft? Haben sie irgendjemanden tödlich beleidigt?«
»Nein«, erwiderte Sejer ohne Zögern. »Dazu gibt es keinerlei Anhaltspunkte.«
Holthemann verabschiedete sich und verließ das Büro. Die Tür fiel hinter ihm zu und der Stock pochte monoton den Gang hinunter. Sejer machte es sich bequem, um Lily Sundelins Bericht zu lesen. Sie hatte den ganzen Tag minutiös geschildert und er machte sich beim Lesen einige Notizen. Bemerkenswert fand er zum Beispiel, dass Karsten Sundelin ein Geräusch gehört hatte, das von einem Moped stammen konnte und aus dem Wald hinter dem Haus gekommen war. Von dort führte ein Waldweg nach Askelandsfeltet und Sejer beschloss, diesen Weg mal in aller Ruhe entlangzugehen.
Das Raubtier aus Bjerkås , wiederholte er in Gedanken. Dieser Künstlername würde dir gefallen.
Er fuhr geradewegs nach Askeland.
Aber es war nicht leicht, den Waldweg nach Bjerketun zu finden. Nach einer ausgiebigen, aber erfolglosen Suche, ging er zu einem kleinen Sportplatz, wo ein paar Jungen Fußball spielten.
»Ich bin von der Polizei«, sagte er. »Es geht um diese Babygeschichte in Bjerketun. Davon habt ihr doch sicher gehört, oder?«
Die Jungen kamen angerannt. Einige waren dunkelhäutig, wie Matteus, die anderen waren Blondschöpfe, und alle etwa zwischen acht und neun Jahre alt. Sie führten ihn hinter eine alte Baracke, die als Clubhaus diente, und zeigten ihm einen schmalen Weg, der in den Wald führte.
»In fünf Minuten sind Sie auf dem Hauptweg«, erklärten sie. »Und wenn Sie nach Bjerketun wollen, müssen Sie dann nach links abbiegen. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde.«
»Ist der Weg so gut, dass man darauf mit dem Moped fahren kann?«, frage Sejer.
»Klar doch«, sagten sie. »Aber für Crossbikes ist er noch besser. Sogar aus Kirkeby kommen die Crossbiker her. Aber eigentlich ist das verboten.«
»Weil es solchen Krach macht?«, fragte Sejer.
»Ja, es macht einen Wahnsinnskrach. Und sie wühlen den Weg auf.« Er bedankte sich und ging los. Zuerst ging er durch Laubwald, aber als er den offiziellen Forstweg erreicht hatte, dominierten die stattlichen Tannen. So weit das Auge reichte standen sie in Reih und Glied da. Überall war der Boden sauber und trocken und es duftete nach Tannennadel. Dann entdeckte er ein altes Baumhaus, das ziemlich verfallen aussah und wahrscheinlich nicht mehr benutzt wurde. Aber irgendwann einmal war es ein geheimer Treffpunkt gewesen, und es weckte alte Erinnerungen an seine Kindheit. Er kann von hier gekommen sein, überlegte er, mit dem Ziel Bjerketun und Karstens und Lilys Haus. Lautlos ist er hier entlang geschlichen, mit seinem bösen Plan im Gepäck. Wahrscheinlich hat sein Herz bis zum Hals geschlagen, wahrscheinlich war ihm heiß vor Erregung. Mit wachsamen Augen und Ohren ist er durch den Wald gelaufen und hat sich großspurige Gedanken über sich und seinen Platz in der Welt gemacht, so wie Kriminelle das oft machen. Sie glauben, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Dass normale Regeln für sie nicht gelten. Dass sie die Klügsten sind und tun und lassen können, was sie wollen, und dass sie am Ende als einzige überleben.
Nach einer halben Stunde sah er durch die Baumstämme rote Dächer leuchten. Er zögerte kurz, bog dann links ab und stand kurze Zeit später vor dem Haus der Sundelins. Er sah den Garten und den großen Ahornbaum mit der gewaltigen Krone, unter dem der Kinderwagen gestanden hatte. Er stellte sich den Kick vor, als der Täter den Wagen entdeckt hatte. Vielleicht hatte er irgendeine Bewegung unter der Decke gesehen, strampelnde Babyfüßchen.
Mehrere Minuten stand Sejer so da und beobachtete das Haus.
Sundelins roter CR-V stand in der Einfahrt.
Über dem Haus lag eine warme und schläfrige Stille. Als kauerten sie alle zusammen in einer Ecke, die kleine verletzte Familie.
Er blieb noch eine Weile stehen, betrachtete das Haus und kam sich dabei vor wie ein Voyeur. Schließlich riss er sich los und ging durch den Wald zurück. Sorgfältig suchte er mit dem Blick den Waldboden ab, fand aber nichts außer Tannenzapfen. Die Jungen spielten noch immer Fußball, und plötzlich hatte er eine unbändige Lust mitzuspielen. Das fiel ihm nicht weiter schwer, er war
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