Eine undankbare Frau
lautlos und mit offenem Mund, in seinem bleichen Zahnfleisch steckten gelbe Zahnstummel. Johnny setzte sich auf den Puff. Er war stolz darauf, was er erreicht hatte, und er war aufrichtig der Ansicht, dass er etwas Besonderes sei. Allerdings fühlte er sich nicht wertvoll. Zumindest nicht wertvoller als eine Laus oder eine Kellerassel oder ein anderes hässliches Kriechtier, das in der Feuchtigkeit und Finsternis unter einem Stein hauste. Er hatte nicht mehr Bedeutung als dieses Getier, hatte keine Antworten auf die Fragen des Lebens oder eine größere Daseinsberechtigung. Er fühlte sich nicht wichtig, und seine Existenz war nicht weiter bedeutsam. Er fühlte sich aus dem Zusammenhang gerissen, wie ausgerissenes Unkraut, das danach nie wieder Wurzeln schlagen kann. Leben und Tod waren ihm gleichgültig, ihm war egal, was passierte und was die Leute dachten. Deshalb konnte er tun, was er wollte. Worauf das hinauslief, interessierte ihn nicht und er beschäftigte sich auch nicht mit den Konsequenzen. Aber er hing an dem alten Mann, der vor ihm im Sessel schlief.
Wo soll ich hin, wenn du nicht mehr da bist, fragte er sich. Wen soll ich besuchen, um wen soll ich mich kümmern? Nur hier bei dir kann ich klar denken. Hier, in dem warmen stickigen Zimmer, auf dem alten Puff. Ich schmiere dir ein Brot und schlage eine Fliege tot. Ich hole die Post rein und wir plaudern ein bisschen.
»Opa?«, flüsterte er.
Henry blinzelte.
»Ich weiß, dass du da bist«, brummte er. »Du kommst so leise wie eine Katze ins Haus geschlichen, aber ich merke es sofort.«
Johnny rutschte näher an den Sessel heran.
»War deine Hilfe hier?«, frage er. »Die aus Thailand?«
Der Alte hob eine klauenähnliche Hand an seine Nase, um einen Tropfen abzuwischen. Die Hand, mit den verkrümmten Fingern, erinnerte an eine primitive Waffe, die Johnny mal in einem Film gesehen hatte, ein Stück Holz, in das Nägel geschlagen waren.
»Mai Sinok«, sagte der Alte. »Sie heißt Mai Sinok und sie war um acht Uhr hier. Sie hat Blumenkohlsuppe mitgebracht und vier Pfirsiche. Ich habe alles aufgegessen, für dich ist nichts mehr übrig.«
Er öffnete die Augen. Seine Iris war hell und wässrig.
»Opa«, sagte Johnny. »Wie geht es dir heute? Nicht schlechter, oder? Geht es dir schlechter?«
Der Alte musste darüber nachdenken. Er ging seinen gebrechlichen Körper vom Scheitel bis zur Sohle durch.
»Es geht mir nicht schlechter«, sagte er. »Aber es kann auch nicht besser werden. Ich habe Wasser in der Lunge, weißt du. Und ich habe Gicht und mein Herz will nicht. Oh, das reimt sich ja, hast du das gehört, Johnny?«
Johnny legte ihm die Hand auf den Arm.
»Du wirst neunzig werden«, versicherte er. »In zwanzig Jahren sitze ich noch immer hier auf dem Puff. Und du wirst aussehen wie eine Tannenwurzel. Und ich kann dich als Kleiderhaken nehmen und meinen Helm daran aufhängen.«
Der Alte stieß ein paar Grunzlaute aus, die vermutlich ein Lachen sein sollten.
»Erzähl mir, wie das ist«, bat Johnny. »Alt zu sein. Ich meine, wenn der Körper so erschöpft ist wie deiner. Und du fast nichts isst. Und nur hier sitzt und döst. Und mit fast keinem Menschen redest, nur mit mir und Mai Sinok. Erzähl mir, wie das ist.«
»Du meinst bestimmt, ich stehe schon mit einem Fuß im Grab«, er strich sich die Haare aus der Stirn. »Aber tun wir das nicht alle?«
»Ich bin doch erst siebzehn«, sagte Johnny. »Ich habe das Leben noch vor mir.«
»Ja, das reden wir uns gerne ein. Sonst ist doch alles unerträglich.«
»Erzähl mir bitte, wie es ist«, bohrte Johnny weiter. »Spürst du, dass der Tod sich nähert? Spürst du, dass dein Herz und dein restlicher Körper langsamer arbeiten? Wie ist es, sich in Zeitlupe zu bewegen. Bitte, erzähl es mir.«
»Das ist schon in Ordnung. Das ist, als würde man im seichten Wasser dümpeln, hin und her und her und hin. Von morgens bis abends. Man kann sich einfach treiben lassen«, sagte Henry.
»Du lügst«, sagte Johnny. »Im seichten Wasser dümpeln, echt jetzt.«
Wieder stieß der Alte dieses grunzende Lachen aus. Er schwenkte seinen Holzklotz ein wenig hin und her und streichelte Johnny mit einer ungeschickten Berührung.
»Mir geht es wirklich gut, Junge«, sagte er.
»Aber ich will wissen, wie es ist«, quengelte Johnny. »Verändert sich das Licht? Oder die Akustik?«
Henry seufzte.
»Ich sehe bestimmt dasselbe wie du«, sagte er. »Jeder Mensch lebt an seinem Abgrund. Die Aussicht ist dieselbe. Alles
Weitere Kostenlose Bücher