Eine unzüchtige Lady
Caroline das Stadthaus der Familie Wynn geerbt hatte, war dieses Haus vermutlich ohnehin nur gemietet. Nicholas setzte sich nicht, sondern trat an den Kamin und blickte auf die Uhr in der Zimmerecke. Er würde Wynn fünf Minuten geben. Er kämpfte den Drang nieder, auf und ab zu tigern.
Er verlor nur sehr selten seine Beherrschung. Seine Selbstkontrolle war zum Teil angeboren, zum Teil mühsam erlernt, weil seine Stellung und seine Verantwortung es von ihm verlangten. Für ihn war es schon außergewöhnlich, wenn er die Stimme erhob. Natürlich kam hinzu, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er je so mörderisch wütend gewesen sein könnte.
Der Mann hatte Caroline angerührt. Mehr noch, er hatte sie zweifellos in Angst und Schrecken versetzt.
»Was zum Teufel wollt Ihr hier, Rothay?«, knurrte Wynn von der Tür her. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch gewaltsam Zutritt zu meinem Haus zu verschaffen?«
Nicholas drehte sich um. Sein Blick richtete sich auf den
Mann, der den Salon betrat. Zufrieden stellte er fest, dass seine Lordschaft etwas blass um die Nase wirkte, als litte er Schmerzen.
Höflich erwiderte er: »Ich bin versucht, Euch zu töten.«
Der höhnische Ausdruck auf dem bleichen Gesicht des anderen Mannes gefror. Nach einem Moment haspelte er: »Ich habe keine Ahnung, warum Ihr das tun solltet. Ich weiß ja nicht, was diese kalte, kleine Schlampe Euch erzählt hat, aber …«
Nicholas machte angesichts dieser Beleidigung einen Schritt nach vorne. »Ich sollte es vielleicht tun«, überlegte er. Sein Blick verengte sich, und er nahm eine drohende Haltung an. »Wenn ich meine aktuelle Stimmung bedenke, würde ich Euch raten, Eure Bezeichnung für Lady Wynn zu überdenken. Es wäre mir ein Vergnügen, Euch mit bloßen Händen in winzige Stücke zu zerreißen.«
Wynn versteifte sich. »Wegen einer Frau? Ihr?«
»Wegen dieser Frau, ja.«
»Ach, kommt schon, Rothay. Ist sie nicht einfach eine von Euren gefälligen Bettgefährtinnen? Ihr wechselt sie so schnell wie Eure Hemden. Außerdem fällt es mir schwer zu glauben, dass Euch diese Angelegenheit überhaupt etwas angeht. Sie ist eine Hure, die zwei verschiedenen Männern angeboten hat, die Beine breitzumachen. Warum kümmert es Euch, wenn sie mir dieselbe Gefälligkeit erweist?«
Nicholas spürte, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. Ein roter Nebel verschleierte seine Sicht. Er atmete tief ein. Er wusste, wenn er jetzt Hand an Wynn legte, würde er ihm einfach das Genick brechen. Durch zusammengebissene Zähne erwiderte er: »Wenn Ihr die geringste Ahnung hättet, wie sehr ich versucht bin, den Umstand zu übersehen, dass Mord in England ein Verbrechen ist, würdet Ihr auf der Stelle den Mund halten. Unter den gegebenen Umständen könnte ich Euch zum Duell fordern
und Euch morgen früh bei Tagesanbruch ohne Gewissensbisse töten, wie man ein Insekt zertritt. Ihr seid jetzt schön still und hört zu, was ich zu sagen habe. Verstanden?«
Kurz fragte er sich, ob der andere Mann, der sich auch nicht hingesetzt hatte, auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen würde. Lord Wynn schien schließlich die Gefahr zu begreifen, in der er schwebte, denn sein prahlerisches Benehmen fiel in sich zusammen, und sein Gesicht nahm eine ungesunde Färbung an.
»Gut, das gefällt mir schon besser«, sagte Nicholas leise. »Ich glaube, wir verstehen einander. Hier ist der Handel. Ihr haltet Euch von ihr fern. Haltet Euch weit von ihr entfernt auf. Schaut sie nicht an, kontaktiert sie nicht. Wenn sie eine Veranstaltung besucht und Ihr dort seid, geht Ihr sofort. Zumindest für die kommenden Monate rate ich Euch zu einem Aufenthalt auf dem Lande, bis sich meine Wut gelegt hat. Wenn Ihr in der Stadt seid und wir uns begegnen, kann ich Euch nicht versprechen, die Selbstbeherrschung zu wahren. Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt deutlich gemacht.«
Wynn öffnete den Mund, als wollte er etwas einwenden, doch er war so klug, nichts zu sagen. Seine hellen Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und seine Hände zitterten. Männer, die Frauen terrorisierten, waren selten mehr als Feiglinge. Wynn war da keine Ausnahme.
»Lasst mich fortfahren. Wenn Ihr auch nur ein schlechtes Wort über sie verlauten lasst, werde ich Euch zerstören. Gesellschaftlich, finanziell, auf jede erdenkliche Weise. Die Manning-Familie verfügt über großen Einfluss in jedem Winkel Englands - und übrigens auch auf dem Kontinent. Der Prinzregent ist einer meiner Freunde. Ihr werdet
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