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Eine unzüchtige Lady

Eine unzüchtige Lady

Titel: Eine unzüchtige Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Wildes
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Margaret zu verheimlichen, dass zwischen ihrem Neffen und Annabel zurzeit eine gewisse Feindseligkeit herrschte. Einmal hatte Thomas sie sogar behutsam ausgefragt, aber es war höchst
unwahrscheinlich, dass sie irgendwem von jenem schicksalhaften Kuss oder gar davon erzählte, was sie kurz danach hatte mit ansehen müssen.
    In ihrer Erinnerung waren die Bilder ohnehin noch lebhaft genug und hatten sich mit schmerzlicher Deutlichkeit eingebrannt. Derek beugte sich über Lady Bellvue - die zufällig auch die Frechheit besaß, schön und kultiviert zu sein -, ihr Mieder war geöffnet, sein Mund lag auf …
    An dem Punkt hatten Tränen Annabels Sicht verschleiert, und sie war so schnell wie möglich aus dem Wintergarten gelaufen, ehe sie schluchzend vor den Augen der beiden zusammenbrach. Nein, das hatte sie sich für später aufgehoben. Als sie ihr Zimmer erreichte, weinte sie, bis sie keine Tränen mehr hatte. Es war so ironisch, dass der sanfte Kuss in der Bibliothek die Krönung all ihrer romantischen Fantasien gewesen war; doch am selben Tag hatte er es geschafft, ihr Glück auf einen Schlag zerstört.
    Sie war in diesem winzigen Moment erwachsen geworden, als ihr bewusst wurde, dass das Auftreten dieses jungen Manns mit seinem ungezwungenen Lächeln und dem großzügigen Wesen nur eine Fassade war, um die Seichtheit und das Desinteresse an den Gefühlen anderer zu verschleiern. Sie hatte ihm seine angeborene gutmütige Intelligenz stets zugutegehalten, aber jetzt realisierte sie, dass seine Mängel seine Tugenden bei weitem übertrafen. Die Gerüchte stimmten also. Das Einzige, was er wollte, war eine willige Gespielin. Die Gefühllosigkeit, die damit einherging, drehte ihr den Magen um. Wie viele Herzen hatte er außer ihrem bereits gebrochen? Der Mann, von dem sie glaubte, ihn zu lieben, war nur eine Illusion, mehr nicht.
    »… Stück Torte?«
    Annabel blickte auf und blinzelte. »Entschuldige?«
    Das Objekt ihrer Gedanken wies auf den Teller auf dem Teewagen. Seine lebhaften blauen Augen waren verschleiert, aber
ein winziges Lächeln umspielte seinen wohlgeformten Mund. »Darf ich eins?«
    »Ich bin sicher, du hattest viele.« Die Worte kamen einfach so, und um die Sache noch schlimmer zu machen, verriet ihre zuckersüße Boshaftigkeit, wie sehr sie ihn verabscheute.
    Gütiger Himmel, hatte sie das tatsächlich gerade laut gesagt?
    Margaret murmelte: »Du meine Güte.«
    Dereks dunkelblonde Augenbrauen hoben sich. Er hatte sich in seinem Sessel bequem zurückgelehnt, die langen Beine ausgestreckt und eine Hand um die Tasse gelegt. Er wirkte amüsiert, und das machte sie noch wütender. Wie immer sah er unverschämt gut aus, trug zu seinem dunkelblauen Jackett eine braune Reithose und polierte Stiefel. Seine Krawatte war wie immer perfekt gebunden. Das Licht, das durch eines der hohen Fenster in den Salon fiel, ließ sein Haar golden schimmern und betonte die klare Linie von Wange und Stirn. »Ich gestehe, dass ich eine Vorliebe für verschiedene Torten habe, aber zum Tee bevorzuge ich Zitrone.«
    Verärgert griff Annabel nach dem Teller mit süßem Gebäck und stieß es in seine Richtung. Sie hatte sich an jedem einzelnen Tag nach jenem unseligen Vorfall geschworen, es würde ihr nichts mehr ausmachen. Die Naschereien rutschten gefährlich zum Tellerrand, aber zum Glück fiel keines auf den teuren Teppich mit Blumenornamenten. Sie machte sich ohnehin schnell genug lächerlich, ohne noch zusätzlich Unordnung anzurichten.
    Und dann nahm der verfluchte Kerl sich auch noch Zeit, ein Törtchen auszusuchen und zwang sie, den Teller für ihn wie ein kriecherisches Serviermädchen übermäßig lange zu halten. Zweifellos legte er die auch allesamt flach, dachte sie erzürnt. Sie war nicht sicher, ob sie wütender auf sich war, weil sie so schnell die Selbstbeherrschung verloren hatte, oder auf ihn, weil er die Situation wohl so komisch fand.

    Sein Selbstvertrauen und die Ruhe schienen immer ihren Mangel an ähnlicher Gewandtheit zu betonen. Aber sie lernte dazu. Sie hatte inzwischen eine Kunst daraus gemacht, ihn seit jenem entsetzlichen Abend zu meiden, und mehr als einmal fragte sie sich, ob er sich nicht bewusst Mühe gab, Einladungen zu Veranstaltungen abzulehnen, bei denen auch sie zugegen sein würde. Natürlich mussten sie bei Familienfeierlichkeiten zumindest ein wenig miteinander reden, aber keiner von ihnen tat mehr, außer die Anwesenheit des anderen zu registrieren.
    Derek kam nie zum Tee vorbei.

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