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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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damit der Stärkste. Der dritte war wieder älter, begann jetzt zu hüpfen und stieß unartikulierte, kehlige Laute aus. Als einziger trug er auf dem Kopf einen Putz aus gebleichten Knochen, garniert mit leuchtendroten Federn. Er war auch der einzige, der nicht schwieg, sondern neben der Baumtrommel die vollkommene Stille des Dorfes durchbrach.
    Gloria zögerte. Ihre anfängliche Angst war merkwürdig gedämpft, und je mehr sie die kleinen, nackten, bemalten Männer betrachtete, um so weniger fürchtete sie sich vor ihnen.
    Sie wollen mich nicht töten, dachte sie. Sie bauen mich hier auf, als sei ich etwas Überirdisches. Während sie sich umblickte, dachte sie an ihren Vater und an ein Erlebnis, das er einmal mit einem Wilden gehabt hatte. Der Wilde war als Kundschafter eines noch nicht entdeckten Stammes aus dem Urwald herausgekommen, um die Außenstelle des Krankenhauses von Porto Velho, die Dschungelstation Maria Magdalena, zu besuchen. Einmal im Monat flog Dr. Pfeil in dieses gottverlassene Urwaldnest, in dem zehn Geologen wohnten, die seit drei Jahren vergeblich nach einem angeblichen Erdölvorkommen suchten. Zwei von den zehn Männern waren immer krank und brauchten Medikamente, siebenmal zog Dr. Pfeil sogar Zähne; im Urwald ist ein Arzt das Mädchen für alles.
    Nach über einem Jahr tauchte der nackte, kleine Indianer auf, stand zwei Tage beobachtend am Waldrand, rannte weg, wenn Dr. Pfeil sich ihm näherte, und kam erst am dritten Tag, geduckt wie ein gescholtener Hund, aus dem Dickicht heraus. Als Dr. Pfeil, glücklich über diesen Erfolg, sich eine Zigarette ansteckte und dazu das Feuerzeug benutzte, stieß der kleine, braune Mensch einen hellen Schrei aus und fiel mit dem Gesicht auf die Erde.
    Ein Gott, der einen Blitz aus seinen Fingerspitzen schlägt! Dr. Pfeil und drei der Geologen waren dann etwa siebzig Kilometer mit ihrem Motorboot den Fluß Xambaxac hinaufgefahren. Der zitternde Indianer führte sie mit Gesten und unverständlichen Lauten, und sie hatten das Dorf gefunden, ein Dorf voll kranker Menschen, ausgezehrt und vom Tod gezeichnet: ein ganzes Volk von Tuberkulösen.
    Dr. Pfeil konnte die Hälfte noch retten, er kämpfte fast ein Jahr um diese Menschen. Als er bei einem seiner letzten Vierwochenbesuche wieder den Rio Xambaxac hinauffuhr, war das Dorf verschwunden, die Hütten zerstört, der Stamm im unendlichen Wald verschwunden.
    An diese Erzählung dachte Gloria jetzt. »Man muß ihr Freund oder ihr Gott sein!« hatte Dr. Pfeil damals gesagt. »Von beiden ist Gott sein das sicherste. Man darf nie vergessen, daß bei ihnen ein Menschenleben außerhalb ihrer Sippe nicht mehr ist als ein Tierleben. Wer die Kraft hat, darüber zu verfügen, übt sie aus!«
    Die drei Federmänner hatten jetzt den Kreis der Krieger erreicht. Feierlich hintereinander hergehend umschritten sie Gloria und zeigten ihr die fürchterlichen Ketten mit den menschlichen Schrumpfköpfen.
    Sie schenkten der Göttin ihre Tapferkeit, stellvertretend für das ganze Volk. Die Trophäen des Sieges, die Köpfe der Gegner, gehörten dem Mädchen aus der Sonne.
    Einem plötzlichen Gedanken folgend, nickte Gloria ihnen zu, atmete dann tief auf und rannte hinunter zum Strand. Die Mauer der Krieger öffnete sich, ließ sie hinaus, und mit jagendem Herzen erreichte sie ihren Rucksack. Mit einem Griff riß sie die Polaroidkamera heraus, hängte sie sich um den Hals und rannte zurück zu den Wilden.
    Ohne das Ereignis durch Zeichen anzukündigen, hob sie den Apparat an die Augen, visierte die drei federgeschmückten Männer an und drückte den Auslöseknopf herunter. Das leise Klick ging im dumpfen Trommelwirbel unter.
    30 Sekunden bis zur Entwicklung des Farbbildes, dachte Gloria. Hoffentlich stimmt das. Oder waren es fünfzig Sekunden? Sie zog die Bildlasche heraus und begann zu zählen.
    Die Krieger starrten sie mißtrauisch an, die drei Federmänner legten ihre Schrumpfkopfketten vor Gloria auf die Erde, und der Wilde mit den Knochen auf dem Kopf holte aus seinem Federkleid eine Art Rassel hervor, einen kleinen Kürbis, mit Kieselsteinen aus dem Fluß gefüllt, und begann Gloria damit zu um tanzen.
    Achtundzwanzig … neunundzwanzig … dreißig …
    Das Foto mußte fertig sein.
    Gloria riß das Deckpapier herunter und löste vorsichtig das Bild heraus. Es war ein gutes scharfes Foto: drei Männer im Schmuck eines Federberges. Leuchtend in den Farben – eine Verkleinerung der Wirklichkeit auf Handtellergröße.
    Ohne ein Wort

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