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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Ameisen machte: die weiße Göttin, die aus der Sonne getropft war. Die Göttin, auf deren Kopf gesponnene Sonnenstrahlen lagen. Die Göttin, die ewige Fruchtbarkeit brachte.
    Er starrte sie an, mit aufgerissenem Mund und weiten Augen. Gloria war zu ihm getreten, beugte sich über ihn und suchte die Knoten der Lianen. Dabei fiel ihr Haar über ihr Gesicht und berührte auch die Schultern des Gefangenen.
    Der kleine Mann atmete nicht mehr. Sie sieht aus wie ein Mensch, dachte er. Nur größer, viel größer. Und doch ist sie kein Mensch. Es gibt nur Menschen mit schwarzen Haaren. Das aber ist ein Haar aus goldenem Feuer, es sind wirklich Sonnenstrahlen, warm und weich, wie sie jetzt die Schultern berühren. Arme Yincas! Sie werden immer ein Volk der Dunkelheit bleiben.
    Die Ximbús saßen mit verschlossenen Gesichtern im weiten Kreis herum, als Gloria den Gefangenen losband. Aber auch als die Lianen an ihm herunterfielen, blieb er sitzen und rührte sich nicht. Sein Atem war so schwach, daß der Mann wie versteinert schien.
    »Geh«, sagte Gloria laut. »Los, lauf weg! Du siehst doch, daß du frei bist! Auch wenn du mich nicht verstehst, du mußt doch spüren, daß du weglaufen darfst.«
    Der Yinca blieb sitzen. Sein Kopf, weiß vom getrockneten Lehm, wirkte wie ein Totenschädel. Er hatte die Augen geschlossen und wartete darauf, von der lebenden Sonne verbrannt zu werden. Ein schöner Tod, von den Göttern selbst vernichtet zu werden.
    Gloria blickte sich um. Die Krieger der Ximbús saßen im weiten Kreis herum, der alte Häuptling hatte seinen großen Federschmuck über den Kopf gestülpt, der Medizinmann, seit Glorias Erscheinen der mächtigste Mann der Ximbúwelt, stand abseits und musterte die Szene mit klugen, wissenden Augen.
    Es war völlig unmöglich, daß ein Yinca zurückkehrte, wenn er das Dorf der Ximbús gesehen hatte – das konnte auch eine Göttin nicht ändern. Götter haben andere Aufgaben, als sich um Politik zu kümmern. Das Leben der Menschen untereinander ist Menschensache, wie auch die Tiere miteinander und gegeneinanderleben, ohne daß ein Gott sich einmischt. Was jetzt auch geschah, es war eine große Entscheidung: Die Grenzen der Gottheit würden offensichtlich werden.
    »Geh«, sagte Gloria wieder. Sie faßte den Yinca an der Schulter. Der kleine Mann zuckte zusammen, fiel nach vorn und blieb so liegen, mit angezogenen Knien, als habe ihn der Blitz getroffen.
    Hilflos sah sich Gloria um. Zwischen den Bäumen, auf denen die Nesthütten hingen, dröhnte noch immer die Baumtrommel. Ihr dumpfer Klang hämmerte die Botschaft in den unendlichen Wald: Wir haben einen neuen Kopf! Wir haben einen neuen Kopf! Sieg über die Yincas!
    »Xéré!« rief Gloria. »Xéré, komm her!« Sie suchte den jungen Krieger, der immer um sie gewesen war. Sie entdeckte ihn unter den Männern, die den Kreis bildeten. Er trug wie sie Waffen, hatte sich schnell mit irgendeiner Farbe aus dem Saft einer Pflanze das Gesicht mit roten Streifen bemalt und sah mit wachen Augen zu Gloria hinüber. Als sein Name ertönte, wollte er aufstehen, aber der Mann neben ihm drückte ihn an der Schulter wieder in den Sitz hinunter.
    »Xéré – hilf mir!« rief Gloria. »Sag ihm, daß er weggehen soll! Du verstehst mich doch, du bist der Intelligenteste von allen.«
    Sie machte ein paar Armbewegungen, zeigte auf den Gefangenen und dann in den Wald. Selbst der Dümmste mußte das verstehen.
    Xéré, der Jüngling, der durch seine Entdeckung der weißen Göttin zum Krieger geworden war, schnellte hoch. Er trat in den Kreis, riß den Yinca an den Haaren vom Boden und stieß ihn vor sich her zum Fluß. Niemand hinderte ihn daran, auch nicht der Medizinmann. Aber als Xéré an ihm vorbeikam, sagte er leise: »Xéré, vergiß nicht dein Volk!«
    »Die Göttin befiehlt«, murmelte Xéré und hielt den kleinen Yinca noch immer an den Haaren fest.
    »Die Göttin denkt nicht wie ein Mensch.« Der Medizinmann stand unbeweglich wie eine geschnitzte Statue. Nicht einmal seine Lippen bewegten sich beim Sprechen. »Sie lebt unsterblich in der Götterwelt, wir aber müssen mit unseren Feinden leben.«
    Xéré nickte. »Ich bringe ihn ein Stück weiter«, sagte er. »Aber seinen Kopf kann ich nicht nehmen, sie würde es merken.«
    Er ging weiter, zog den stummen Yinca hinter sich her und verschwand in einem Mangrovendickicht am Flußufer.
    Die Baumtrommel schwieg. Die Männer erhoben sich und kehrten zu ihren Hütten zurück. Ein Trupp zog aus, um

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