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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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für das Abendessen zu sorgen. Allein stand Gloria auf dem leeren Platz.
    Das kalte Gefühl, einen nie mehr rückgängig zu machenden Fehler begangen zu haben, überflutete sie. Sollte ich zulassen, daß man tötet? dachte sie. Daß man ihn abschlachtet wie ein Tier? Vor meinen Augen? Und dann hätten sie ihm den Kopf abgeschlagen und das Herz aus seiner Brust geholt und mir zum Opfer gebracht.
    Warum glauben die Menschen, die Götter wollten nur immer Blut sehen? Rechtfertigen sie damit ihre eigene Grausamkeit? Warum gibt es keine Götter der Güte? Selbst Abraham wollte seinen Sohn Isaak unserem Gott opfern. O Himmel, wenn es möglich wäre, diesen Menschen begreifbar zu machen, daß ihre weiße Göttin nur Frieden will, nur Ruhe, nur Freundschaft, keinen Tod, keine abgeschlagenen Köpfe, keine herausgeschnittenen Herzen.
    Frieden! Auch im unerforschten Urwald!
    Gloria wandte sich ab. Am Fluß stand als einziger noch der Medizinmann und starrte sie an. In seinem Blick erkannte sie, daß ihr Gottsein in diesen Minuten einen Sprung erhalten hatte. Das Göttliche bröckelte ab. Werden Menschen in seiner Grausamkeit behindert, kommt selbst in die Gefahr, vernichtet zu werden. Auch als Gott!
    Gott sein ist bei den Menschen ein undankbares Handwerk.
    »Frieden!« schrie sie den Medizinmann an. »Das verstehst du! Das habe ich dir gezeigt. Und so wird es weitergehen! Ihr zwingt mich ja dazu, euch zu regieren!«
    Sie blieb vor dem stummen, federgeschmückten und bemalten Mann stehen und ballte die kleinen Fäuste. Dann hob sie sie hoch und hielt sie ihm unter die Augen. »Frieden! Mein Gott, jetzt erst verstehe ich, was es heißt, durch Gewalt den Frieden erkämpfen. Dieser Wahnsinn, Vernunft in die Hirne zu klopfen!«
    Der Medizinmann blickte auf die Fäuste. Er verstand mehr, als Gloria annahm. Er verstand vor allem, daß die alte Ordnung geändert werden sollte und die Macht nicht mehr bei ihm lag.
    Plötzlich lächelte er. Es war ein so breites, gemeines Lächeln, daß Glorias Herz aussetzte. Er nahm ihre Fäuste, drückte sie herunter, stieß ein paar Grunzlaute aus und ging an ihr vorbei zu den Hüttenbäumen.
    Es bedurfte keiner weiteren Zeichen: Der Machtkampf hatte begonnen. Und es war ein anderer Gegner, als der junge Häuptling es gewesen war. Er hatte in der Göttin nur eine herrliche, schöne Frau gesehen. Hier aber ging es um die Macht. Und die war gnadenloser als die Liebe.
    Gloria ging hinunter zum Fluß und wartete. Wo blieb Xéré? Was geschah mit ihm, wenn er zurückkam? Vernichtete ihn sein Ungehorsam?
    Xéré schien das gleiche zu denken. Nachdem er aus dem Blick seines Stammes gekommen war, ließ er die Haare des kleinen Yinca los und stieß ihn vor sich her am Flußufer entlang. Dann blieb er stehen und hielt den Feind fest. Der Indio mit dem Lehmkopf sah Xéré groß an. Jetzt kam er … der Tod. Es war etwas ganz Natürliches.
    Aber Xéré erstach ihn nicht. Er zeigte auf das Wasser und sagte leise: »Geh!«
    Der Yinca rührte sich nicht. Was da geschah, war so ungeheuerlich, war so undenkbar, daß er es nicht begriff. Man ließ einen gefangenen Feind laufen?
    Lebte man plötzlich in einer anderen Welt?
    »Geh«, sagte Xéré wieder und gab dem Yinca einen Stoß.
    »Wohin?« fragte der Gefangene. Er rührte sich noch immer nicht von der Stelle.
    »Zurück zu deinem Stamm.«
    »Und mein Kopf?«
    »Bleibt bei dir.«
    »Und mein Herz?«
    »Bleibt bei dir.«
    »Warum?«
    »Die weiße Göttin will es so. Frage nicht.«
    Der Yinca musterte Xéré mißtrauisch. Er witterte eine Falle. Plötzlich wagte er einen Sprung nach hinten und duckte sich. Wenn jetzt nichts geschah, war das Wunder vollendet.
    Und nichts geschah. Xéré nickte dem Yinca zu und hob sogar die Hand zum Gruß. Da warf sich der kleine Mann herum und rannte davon, als jage ihn ein Panther. Mit ausgebreiteten Armen lief er am Fluß entlang und verschwand dann im dichten Dschungel. Die Riesenfarne schlugen über ihm zusammen.
    Xéré suchte danach einen armdicken Ast und warf ihn in den Fluß. Es hörte sich an, als werfe man einen Körper ins Wasser. Dann wartete er noch ein paar Minuten und ging langsam zu seinem Dorf zurück. Er kam von der Waldseite hinein und stieß dort mit dem Medizinmann zusammen, der noch voll war von der Kampfansage, die er eben der weißen Göttin gegeben hatte.
    »Wo ist er?« fragte er.
    »Im Fluß!« Xéré sagte es gleichgültig. »Sie wird es nie erfahren.«
    »Du bist ein tapferer Krieger.« Der Medizinmann

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