Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
umarmte ihn. »Du kannst einmal ein Volk führen.«
Xéré nickte. Sein Herz krampfte sich dabei zusammen. Er riß sich los und rannte davon. An ihm wiederholte sich das alte grausame Spiel zwischen Gewissen und Pflicht.
Er wäre nicht der erste, der daran zerbrechen würde.
Der freigelassene Yinca, dem die weiße Göttin das Leben geschenkt hatte, erreichte bei Anbruch der Nacht sein schwimmendes Dorf. Schreiend, mit den Armen fuchtelnd, sich um sich selbst drehend wie ein Veitstänzer, alarmierte er seinen ganzen Stamm und wurde erst ruhig, als der Medizinmann ihn mit den Knochen eines heiligen Krokodils berührte. Es war das Krokodil, das einmal den besten Häuptling gefressen hatte, als dessen Einbaum im Fluß umschlug.
Der schwitzende, völlig ausgepumpte Mann fiel auf die Erde, wand sich wie eine Schlange und sprudelte dann einen Schwall von Worten heraus. Antonio Serra und Hellmut Peters, die neben ihm knieten und seinen immer wieder auf die Erde schlagenden Kopf festhielten, hörten nur unterschiedliche Laute, aber sie hatten eine ungeheure Wirkung auf die Yincas. Sie begannen ebenfalls zu schreien und benahmen sich, als hätte sie alle der Wahnsinn befallen.
»Was ist los?« stammelte Peters. »Irgendeine Krankheit?«
Sie starrten zu Xinxaré hinüber. Der Häuptling saß auf einem Stein und war der einzige, der nicht schrie und herumtanzte. Er hockte wie versteinert und hatte die Hände aneinandergelegt.
»Was ist?« brüllte Serra zu ihm hinüber. »Xinxaré, was soll der Lärm?«
»Er war gefangen und lebt«, sagte Xinxaré dumpf.
»Na und?«
»Er hat seinen Kopf behalten! Wir müssen die Ximbús vernichten! Die weiße Göttin hat ihm seinen Kopf geschenkt.«
»Gloria«, stammelte Peters. »Mein Gott, das war Gloria!«
»Natürlich war das Gloria!« Serra ließ den Kopf des schreienden Mannes los. »Und in typisch weißer Manier beginnt sie sofort, den Urwald zu reformieren. Wissen Sie, was das bedeutet? Jetzt wird der Fluß rot vom Blut werden. Wir haben einen Krieg entfesselt, Hellmut. Wir drei! Es ist zum Kotzen mit der Menschheit!«
»Wir werden den Krieg verhindern!«
»Wie denn?«
»Indem wir nicht mitmachen.«
»Dann zieht Xinxaré allein los. Und was wird aus Ihrer Gloria? Um die allein geht's doch. Um die verdammte ›weiße Göttin‹! Nein, mein Lieber, wir stecken mitten in der Scheiße, und keiner holt uns da heraus. Es gibt nur eins: mitten durch! Und wenn wir später unser ganzes Leben lang stinken. Wir leben! Das ist es wert!«
18
In der Nacht fand die entscheidende Besprechung statt. Serra nannte sie sarkastisch ›die Generalstabsplanung‹, und etwas anderes war es auch nicht: Xinxaré bereitete den Krieg gegen die Ximbús mit einer geradezu europäischen, ja preußischen Gewissenhaftigkeit vor.
Peters und Serra saßen draußen vor der schwimmenden Insel auf einer festen, hölzernen Plattform. Ein Feuer in einem Steinherd verscheuchte die schwirrenden Mückenschwärme.
Es war ein zauberhafter Anblick, ein Märchen auf dem Wasser, das Peters vor Augen hatte. Auf jeder der kleinen Wohninseln brannte ein Feuer. Die Familien saßen draußen um die Flammen herum, brieten ihr Fleisch oder sangen leise. Die Nacht war mild und wolkenlos, der Fluß plätscherte träge um die Inseln, der Wald mit seinen riesigen, turmhohen Bäumen rauschte einschläfernd, und der Frieden war so vollkommen, als sei dieses Stückchen Erde hier das Paradies.
Ein trügerischer Frieden; die Schrumpfköpfe neben den Haustüren, auf Schnüren aufgereiht, berichteten von grausamen Morden und gnadenlosen Jagden auf andere Menschen.
Peters stieß Serra an, der geduldig zuhörte, was Xinxaré in seinem kaum verständlichen Portugiesisch erzählte.
»Welch ein Anblick«, sagte er leise. »So muß Venedig am Tage seiner Gründung ausgesehen haben.«
»Reißen Sie sich los von dieser Romantik, Hellmut«, knurrte Serra. »Das hier ist eine geschmückte Hölle, weiter nichts. Hören Sie lieber zu, was dieser alte Gauner an Plänen entwickelt. Der Kerl hat Ahnung von Taktik. Er weiß jetzt, daß die Ximbús nicht auf dem Wasser wie er leben, sondern auf den Bäumen. Das bedeutet eine völlig andere Kriegführung. Von den Bäumen herunter kann man gemütlich alles abschießen, was unten auf der Erde herumkriecht, man sieht alles, die geringste Bewegung. Das einzige, was Xinxaré übrigbleibt, ist Feuer.«
»Feuer?« Peters sah Serra entsetzt an.
»Er will die Ximbús ausbrennen. Eine verdammt gute Idee.
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