Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
Mädchen.«
»Okay. Was soll ich tun?«
»Mir und meinem Honey-Bunny eine Geschichte vorlesen.«
Schnell lief Haley zu einem Korb mit Spielzeug und Büchern, die ihnen Franny geliehen hatte, und zog ein Buch heraus, dann kehrte sie zu ihm zurück, kletterte auf den Sessel und machte es sich in seiner Armbeuge bequem.
»Liest du gerne Bücher?«, fragte Vince.
»Ich kann noch nicht lesen«, erklärte sie ihm. »Ich bin noch zu klein.«
»Liest dir dein richtiger Daddy manchmal Geschichten vor?« Er wimmerte innerlich beim Gedanken an den Tritt gegen das Schienbein, den ihm Anne für diese Frage versetzen würde.
Aber Haley schien die Frage überhaupt nicht gehört zu haben und klappte das Buch auf.
»Was ist mit Zander?«, fragte er. »Liest dir Zander vor?«
»Zander ist komisch«, sagte sie, ohne aufzublicken.
»Inwiefern komisch?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Komisch halt. Er mag keine Sachen anfassen. Lustig, oder? Mommy sagt, dass er zenibl ist.«
»Was bedeutet zenibl?«
»Weiß nicht. Warum ist ein Pferd auf deinem Hemd?«, fragte sie und kratzte an dem lilafarbenen Logo auf seinem Ralph-Lauren-Poloshirt.
»Das ist das Zeichen der Firma, die es gemacht hat«, sagte er. Zenibl ? Was zum Teufel sollte zenibl sein?
»Ich mag Pferde«, sagte Haley. »Wenn ich fünf bin, krieg ich ein Pony.« Sie hob ihre kleine Hand und spreizte die Finger, um ihm zu zeigen, dass sie wusste, wie viel fünf war.
Zenibl? Sensibel?
»Meinte deine Mommy sensibel?«
Haley nickte. »Sag ich doch. Was ist zenibl?«
»Wenn jemand sensibel ist, dann heißt das, man kann ihn leicht aufregen und verletzen.«
Haley hatte jedoch schon längst das Interesse an dem Thema verloren und wandte sich wieder dem Buch zu.
»Hat Zander dir jemals Angst gemacht?«, fragte Vince.
Sie runzelte die Stirn. »Kennst du Zander?«
»Ja.«
»Findest du ihn nicht komisch?«
»Doch, ich finde ihn auch komisch«, bekannte Vince.
»Lies endlich die Geschichte!«, rief Haley ungeduldig.
»Liest dir deine Mommy Geschichten vor?«
»Manchmal. Manchmal erfindet sie auch Geschichten. Manchmal macht sie mir Bücher und malt Bilder rein.«
»Das ist aber toll«, sagte Vince. »Vermisst du deine Mommy?«
Ein abwesender Ausdruck trat in ihre Augen, sie sagte eine Weile nichts. Schließlich erwiderte sie leise: »Meine Mommy ist hingefallen und hat sich wehgetan.«
»Ich weiß«, sagte Vince mit sanfter Stimme. Anne würde ihn umbringen. »Warst du dabei, als deine Mommy hingefallen ist, Haley?«
Sie fing an zu weinen. Vince wagte nicht zu atmen.
»Du spielst nicht richtig!«, beharrte Haley mit zitternder Unterlippe. »Du bist der Daddy! Du musst die Geschichte vorlesen!«
»Schon gut, du hast recht, Kleines. Nicht weinen.«
Er mochte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Anne nach Hause kam und Haley ihr erzählte, dass er sie zum Weinen gebracht hatte.
Als Vince die erste Seite aufschlug, rückte sie wieder näher an ihn heran. Ihr kleiner Körper war angespannt, so als stemmte sie sich gegen die Traurigkeit, die er mit seinen Fragen in ihr geweckt hatte. Aber als er dann anfing, von der Prinzessin, die gern eine Elfe gewesen wäre, vorzulesen, spürte er, wie sie sich entspannte. Noch vor der dritten Seite war sie eingeschlafen.
49
»Gina Kemmer ist spurlos verschwunden und ihr Auto auch«, sagte Hicks. »Eine Nachbarin hat gesehen, wie sie gestern Abend zwischen fünf und sechs das Haus verlassen hat. Sie war allein. Sie hatte keinen Koffer dabei. Alles schien ganz normal zu sein.«
Sie hatten sich wieder im Besprechungsraum versammelt, um den Tag abzuschließen, und jemand hatte Pizza und Getränke kommen lassen. Pizza auf Chicagoer Art. Das bedeutete, dass Vince die Bestellung aufgegeben haben musste. Mendez war froh darüber. Er war halb verhungert. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wann er das letzte Mal gegessen hatte – oder sich richtig ausgeschlafen.
Sie saßen um den Tisch und schlangen das Essen hinunter, als wäre es für lange Zeit ihre letzte Mahlzeit. In dem Raum roch es nach Kräutern und Tomatensauce – und darüber hing der Geruch der Enttäuschung.
»Wenn sie die Stadt aus freien Stücken verlassen hätte, dann hätte sie doch sicher ein paar Klamotten zum Wechseln und ihren Kosmetikkoffer mitgenommen«, sagte er. »Sie ist schließlich eine Frau.«
»Stimmt«, sagte Dixon. »Und wenn sie auf dem Supermarktparkplatz entführt worden wäre, stünde ihr Auto noch da. Wenn sie bei
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