Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
entfernt von ihrer Hölle Vince Leone. Nur konnte sie das nicht ahnen.
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Anne stieg auf dem Parkplatz der psychiatrischen Klinik aus ihrem Auto und atmete tief durch – zum einen, weil die Luft hier so frisch roch, zum anderen, weil sie einen klaren Kopf bekommen wollte, bevor sie zu Dennis ging.
Graue dicke Wolken zogen am Himmel auf. Sie hatte sich immer auf diese Zeit im Jahr gefreut, wenn der Regen kam. Nach der monatelangen brütenden Hitze und der gleißenden Sonne fand sie es schön, sich zu Hause mit einem guten Buch unter eine Decke zu kuscheln und dem Trommeln des Regens zu lauschen.
Das hörte sich nach einem guten Plan für den Abend an. Vince war nach Hause gekommen, um auf Haley aufzupassen, während sie Dennis besuchte. Vielleicht hatte sie Glück und konnte den Abend mit ihrem Mann verbringen, und sie würden zu dritt auf dem Sofa sitzen, Haley etwas vorlesen oder sich ein Video ansehen.
Anne klopfte sich innerlich auf die Finger. Haley war noch nicht einmal einen Tag bei ihnen, und sie hatte sie in Gedanken schon fast adoptiert. Pass bloß auf, Anne! Haley Fordham war aus einem ganz bestimmten Grund bei ihnen. Das durfte sie nicht vergessen. Wenn die Ermittlungen zu dem Mord an Marissa Fordham abgeschlossen waren, würde Haley woanders untergebracht werden, im besten Fall bei liebevollen Angehörigen. Bislang hatte man jedoch keine Verwandten auftreiben können. Wenn das so bliebe, würde sich Milo Bordain um das Sorgerecht bemühen. Ohne die Frau näher zu kennen, vermutete Anne, dass in ihrem Haus viele Regeln herrschten und überall Dinge herumstanden, die eine Vierjährige nicht anfassen durfte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass die kleine Haley wie ein Modepüppchen mit Burberry und Hermès ausstaffiert werden würde.
Haley hatte bislang in einem Künstlerhaushalt gelebt, einer anregenden und phantasievollen Umgebung, in der ihr wahrscheinlich nur wenige Grenzen gesetzt worden waren. Als Anne die von Vince mitgebrachten Kleider durchgesehen hatte, hatte sie Batik-T-Shirts, ein rosafarbenes Tutu, eine winzige, mit Dschungeltieren bemalte Jeansjacke und ein Elfenkostüm inklusive Flügel gefunden.
Als Anne jetzt die Klinik betrat, sich an der Anmeldung ins Besucherbuch eintrug und ein wenig mit dem Personal plauderte, stellte sie ihre Überlegungen erst einmal zurück. Sie musste sich auf Dennis Farman konzentrieren.
Er rannte durchs Zimmer und übte Karate, als Anne eintrat. Aus dem Augenwinkel warf er ihr einen Blick zu, tat aber so, als wüsste er nicht, dass sie da war, sondern sprang brüllend und um sich tretend herum.
Anne setzte sich an den Tisch und stellte Einkaufstasche und Handtasche auf den Boden.
»Ich bin echt beeindruckt, Dennis«, sagte sie. »Hast du einen Karatekurs besucht?«
»Ich hab den schwarzen Gürtel«, sagte er und umrundete in geduckter Haltung und mit den Armen durch die Luft schneidend den Tisch.
Lügner!, dachte Anne, allerdings hätte Frank Farman seinen Sohn, wenn überhaupt, am ehesten eine Kampfsportart lernen lassen. Das Gewalttätige daran hätte ihm gefallen.
»Super«, sagte sie, »aber für heute ist es genug. Setz dich bitte zu mir.«
»Warum?«, fragte er aufmüpfig.
»Wenn du möchtest, dass ich bleibe, solltest du es tun«, sagte Anne ruhig. »Wenn du dich hier nur aufführen willst, dann gehe ich wieder.«
Er sprang mit vorgestrecktem Fuß in die Luft und stieß einen Schrei aus. Anne schob ihren Stuhl zurück, nahm ihre Taschen und stand auf.
»Bis bald«, sagte sie und drehte sich zur Tür.
Plötzlich wirkte Dennis überhaupt nicht mehr aggressiv. Er bat sie zwar nicht zu bleiben, setzte sich aber brav auf seinen Stuhl.
Anne wartete kurz, damit er dachte, sie müsste sich überlegen, ob sie nicht doch lieber ging. Ihm sollte klar werden, dass sein Verhalten Konsequenzen hatte – Konsequenzen, zu denen aber nicht Schläge gehörten. Er musste lernen, dass sein Verhalten bei anderen Gefühle hervorrief.
Sie setzte sich. Er starrte auf den Tisch, den Kopf gesenkt, den Mund zu einer Schnute verzogen.
»Tut mir leid, dass ich gestern nicht kommen konnte, Dennis«, sagte Anne. »Ich musste zu einer wichtigen Besprechung.«
»Wichtiger als ich«, sagte Dennis.
Sie ging nicht auf die Bemerkung ein. »Es gibt Besprechungen, die man leider nicht aufschieben kann. Richter haben viel zu tun.«
Bei der Erwähnung eines Richters sah er zu ihr auf. »Ging’s um mich?«
»Nein.«
»Dann ist es mir scheißegal.«
»Klar«, sagte
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