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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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ebenso behaart wie sein Rücken –, sich damit abmühte, einen fröhlichen Drachen aus orangefarbenem Papier mit Hilfe einer kleinen Angel und Angelschnur zum Fliegen zu bringen, während ein lachendes blondes Mädchen den Drachen über ihren Kopf hielt. Ein Lüftchen schüttelte sacht das Papier des Drachen, der mit einem lächelnden orientalischen Gesicht bemalt war. Der Mann im Rollstuhl sagte immer wieder: »Okay, jetzt lauf los, lauf«, worauf die Kleine, die absolut nach sieben aussah, jäh und spielerisch hierhin und dorthin sprang, den Drachen in die Höhe reckend, bis sie ihn mit ihren Sprüngen und Hüpfern schließlich hoch- und von ihren Fingern weggeschubst hatte, während der Mann an der Schnur riss und versuchte, das lächelnde Gesicht in den Wind zu ziehen. Immer wieder sackte der Drachen jedoch ab und ließ sich sacht auf dem Gras nieder, das bis unten ans Ufer reichte. Und jedes Mal sagte der Mann, dessen Stimme sich am Ende der Sätze hob: »Okay. Den kriegen wir schon noch hoch. Das schaffen wir. Heb ihn auf und versuch’s noch mal.« Das kleine Mädchen lachte die ganze Zeit. Sie trug winzige rosa Shorts und ein hellgrünes Oberteil und war barfuß und hatte gebräunte Beine. Sie wirkte ekstatisch.
    Das war der Mann aus dem Park in der Stadt, dachte Nancy und ließ den Vorhang los. Ein belangloser Zufall. Sie betrachtete den in Kleidern schlafenden Tom, der lautlos atmete, die Hände auf der Brust gefaltet wie ein Toter, die bloßen braunen Beine an den Knöcheln in einer absurd lockeren Haltung übereinander geschlagen, ein blauer Laufschuh lehnte am andern. Friedlich schlafend sahen seine attraktiven unrasierten Gesichtszüge gewöhnlich aus.
    Sie schaltete um und verfolgte ein Baseballspiel. Die Cubs gegen eine Mannschaft, deren hellblaue Trikots sie nicht erkannte. Ihr Vater war ein Fan der Clubs gewesen. Sie hatten sich als Nord-Chicagoer betrachtet. An warmen Herbstnachmittagen wie diesem waren sie nach Wrigley gefahren; er holte sie dann mit einer getürkten Entschuldigung aus der Schule, kaufte zwei Plätze an der First-Base-Linie und ließ sie mit einem blauen Stummelbleistift den Spielstand mitschreiben. Das waren die Sechziger. Sie strengte sich an, um sich an die Namen der Spieler zu erinnern, benutzte ihre blau-weißen Trikots und die weinberankte Wand am Outfield als Gedächtnisstützen, dreißig Jahre später. Der lächelnde Ernie Banks fiel ihr ein, ein Weißer namens Ron Sowieso und ein großer Schwarzer aus Kanada mit traurigem Gesicht und hoher Taille, der gut warf, später aber Schwierigkeiten mit der Polizei hatte und im Fernsehen darüber jammerte. Mehr fiel ihr nicht ein.
    Aber durch den Versuch, sich zu erinnern, fühlte sie sich gleich besser – ähnlich zupackend und selbstsicher wie in der Situation mit den japanischen Touristen im Bus an der sonnigen Straßenecke: als wäre sie besonders glaubwürdig, wenn man sie ohne begünstigende Umstände sah, ohne die Belastungen der Liebe und andere Restbestände von uralten Entscheidungen. Auf alle Fälle glaubwürdiger als jetzt hier, in der Falle in Ost-Dingsda in Maine, neben einem vom Weg abgekommenen Ehemann, dessen spirituelle Verstopfung keine Dosis von Leben-durch-Vorwegnahme oder authentischer Ehe heilen konnte.
    Diese ganze Reise – auf der Tom eine aufgeblasene Idee verfocht, nur damit sie sie ablehnte, denn dann konnte er machen, was er ohnehin vorhatte – stimmte sie ihrem Mann gegenüber nicht gerade freundlich, ließ ihn dumm und kindisch dastehen. Unauthentisch, jawohl, ihn. Nicht erwachsen. Es war ein schlechtes Zeichen, dachte sie, wenn man sich selbst als den Erwachsenen in der Beziehung erkannte, während der lebenslange Liebespartner plötzlich als überschwängliches Kind dastand und sich als der große Enthusiast verkaufen wollte, dessen Begeisterung man anscheinend nicht teilen konnte. Woraus mit großer Wahrscheinlichkeit folgte, dass ihr Leben mit Tom Marshall vorbei war. Und zwar nicht so, wie die Klienten, die sie verteidigte, ihre Situationen auflösten – durch den Einsatz von Bedeutungsträgern wie Whiskeyflaschen, Besenstielen, Stoßstangen, Schusswaffen, scharfen oder brennbaren Gegenständen oder einer kräftigen Portion Faust. Dort wurden Botschaften plötzlich und temperamentvoll überbracht, in einem stets schroffen, körnigen Licht, mit aufgedrehter Lautstärke und weit aufgerissenen Türen, vor aller Welt. (Und ihre Aufgabe bestand darin, die Angelegenheiten dieser Leute in ruhigere,

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