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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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empfindsamere Gewässer zu steuern, damit alles auf feinere Weise verstanden, empfunden, erlitten werden konnte.)
    Sie und Tom, im Grunde anständige Menschen, würden einen anderen Weg beschreiten müssen. Sie hatte den Impuls zu helfen. Er dagegen, sich zu bemühen und dann noch mehr zu bemühen. Seine Perfidie war der Enthusiasmus. Ihre Gleichgültigkeit war Geduld. Doch irgendwann würde all der Enthusiasmus aufgebraucht sein, all die Geduld. Es würde weniger Möglichkeiten geben. Das Leben würde sich nicht mehr als offene, flache Ebene darstellen, über die man mit einem gewählten Partner ging, sondern voll gemüllt und unpassierbar werden. Tom hatte es gesagt: Das Leben wurde zu einer Einschränkung, wo plötzlich überall alles im Weg stand. Und was man letztlich suchte, war nicht ein neuer, deutlicherer Pfad voran, sondern ein Fluchtweg. Ihr eigener Sohn sah das Leben bestimmt so, als etwas, das einfach sein sollte. Es kam ihr fast seltsam vor – jetzt, wo er aus dem Haus war –, dass sie überhaupt einen Sohn hatten. Sie und Tom wirkten eher, als wären sie sich gegenseitig Mutter und Vater.
    Aber nun sollte sie am besten auf das hinarbeiten, was sie wollte, auch wenn es Tom nicht einschloss, auch wenn sie nicht wusste, wie das ging, etwas zu wollen, das Tom nicht einschloss. Und selbst wenn es bedeutete, dass sie zu den Menschen gehörte, die Dinge sagten und taten und danach wieder bezweifelten und sogar bereuten. Tom versuchte ja nicht, ihr Leben zu verbessern, ganz gleich, was er glaubte. Nur sein eigenes. Und es hatte keinen Zweck, Leute von etwas abbringen zu wollen, das ihr Leben verbesserte. Er hatte Wünsche. Er hatte Ängste. Er war ein guter Mann, gut genug. Das Leben sollte nicht immer nur aus Bemühen, Bemühen, Bemühen bestehen. Man sollte den größten Teil des Lebens leben können, ohne sich furchtbar zu bemühen. Das war authentisch, da würde er wohl zustimmen.
    In dem abgeschlossenen Raum schien sich jetzt ein seltsamer unirdischer Glanz über alles zu legen. Über Tom. Über ihre eigenen Hände und Arme. Über das Bett. Überall in der statisch aufgeladenen Luft, wie ein Nebel. Es war wunderschön, und einen Augenblick lang hätte sie gern mit Tom gesprochen, ihn aufgeweckt, um ihm zu sagen, irgendetwas würde schon in Ordnung kommen, ganz wie er es hoffte; um Enthusiasmus zu zeigen, auf eine hoffnungsfrohe und zeiterprobte Weise. Aber sie ließ es sein, und dann verschwand der goldene Nebel, und ganz kurz glaubte sie, ein winziges bisschen besser zu verstehen, was für ein Mensch sie war – obwohl sie das richtige Wort dafür nicht fand und nur wusste, dass die Zeit, Dinge auszusprechen, in vielerlei Hinsicht vorbei war.
    Draußen rief die Kinderstimme. »Oh, ist das toll. Das finde ich ja so toll.« Als Nancy den Vorhang aufzog, fiel das weichere Licht über den Sesselrücken, und sie konnte sehen, dass der Mann im Rollstuhl seinen Drachen in der Luft hatte, die nach oben führende Angelschnur aus Fiberglas in einer Hand, während er sein Gefährt den Rasenhang hinunterrollte. Das Kind mit den nackten Beinen hüpfte von einem nackten Fuß auf den anderen, ein umwerfendes Lächeln auf dem langen, erwachsenen Gesicht, das dem Himmel zugewandt war.
    Nancy stand auf und schnippte die Tischlampe neben Toms offenem Koffer an. Ein leuchtender intakter eingeschweißter »Wagner der Hund« und ein weißer »Leuchtturm Maine« steckten zwischen seinen Hemden, seinem Rasierzeug, seinen Socken. Da war auch seine Tapferkeitsmedaille in einer blauen Stoffschatulle und die kleine automatische Pistole, die er immer bei sich hatte, für den Fall eines Überfalls. Sie griff sich nur den Hund Wagner, ließ das Zimmer wieder im Dunkeln versinken und trat durch die Hintertür hinaus auf den Rasen.
    Hier draußen war die Luft frisch und kühl und nur wenig windig, der Himmel hing jetzt voller Steppdeckenwolken, als gäbe es bald Regen. Eine Miniatur-Terrasse aus Beton, inklusive Gartenstühle mit einer Bespannung aus dünnen blauen Plastikschläuchen, befand sich vor jedem Zimmer. Der Drachen, dessen schlitzäugiges Gesicht nach unten schaute, tanzte und täuschte an und gewann an Höhe, während der Mann im Rollstuhl weiter den Rasen hinunterfuhr, auf die Bucht zu.
    »Gucken Sie mal, unser Drachen«, rief das kleine Mädchen, schaute zu Nancy, die Augen im Schatten einer schützenden Hand, und zeigte selig auf das kleiner werdende Gesicht des Drachens.
    »Sensationell«, sagte Nancy und hielt selbst

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