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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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eine Hand schützend über ihre Augen. Der Drachen brachte sie zum Lächeln.
    Der Rollstuhlfahrer drehte sich nach ihr um. Er war wirklich massig, mit dicken Schultern und glatten gerundeten Armen, wie sie unter seinem roten ärmellosen T-Shirt sehen konnte. Er hatte einen runden Kopf, kurz geschorene dichte Haare, kleine und dunkle und durchdringende und unfreundliche Augen. Sie lächelte ihn an und schüttelte den Kopf, als wäre der Drachen unglaublich. Ein ehemaliger Sportler, dachte sie. Ein Kopfsprung in zu flaches Wasser oder irgendein Zusammenstoß beim Football, und nun musste er vom Rollstuhl aus seinen Drachen steigen lassen. Ein Jammer.
    Der Mann sagte nichts, schaute sie nur reglos an, sein Gesichtsausdruck unverwandt, anscheinend wollte er ungern gestört werden. Sie aber genoss es, einfach nur zuzuschauen, ohne einen Kommentar abgeben zu müssen. Die kühle Brise, der schöne, weite Wasserblick nach Islesboro, ein in der Luft stehender Drachen, das reichte doch.
    Dann überschwemmten vorhersehbare Dinge ihren Kopf. Die Schuhe des verkrüppelten Mannes. Daran dachte man doch immer. Seine waren schwarz, und er trug sie ohne Socken, wie Bowling-Schuhe. Er würde sie nie abtragen. Er würde sie höchstens irgendwann nicht mehr sehen können und an irgendwen verschenken, der noch schlimmer dran war als er. Machte ihn das wütend? Redete er darüber? War seine Frau, wo immer sie jetzt war, die ganze Zeit furchtbar müde? Stand sie nachts auf und stellte sich ans Fenster und starrte hinaus und wünschte sich ein paar ganz bestimmte Dinge und legte sich dann, unvermisst, wieder ins Bett? Gab es Schmerzen? Gab es überhaupt so etwas wie Phantomschmerzen? Hatte er Träume von Schmerzfreiheit? Davon, sich aus seinem Rollstuhl zu erheben und lachend herumzulaufen, nie einen Rollstuhl kennen gelernt zu haben? Sie stellte sich einen Hund vor, dessen Hinterbeine an einen kleinen Schlitten mit Rädern gebunden waren und der einhertrottete, als wäre alles in Ordnung. Funktionierte überhaupt irgendwas da unten, fragte sie sich? Gab es Verständnis, Freiräume? Hielt er seine missliche Lage für »interessant«? Hatte das Dasein als Krüppel ihm neue und wichtige Bewusstseinsräume erschlossen? Was wusste er wohl, das sie nicht wusste?
    Wenn sie mit ihm verheiratet wäre, dachte sie, wäre das vielleicht ein besseres Leben als manch anderes. Obwohl man schnell mit allem durch wäre, allzu viel bemerken würde, alles bereuen würde. Vielleicht saß seine Frau, während er hier den Drachen steigen ließ, in der Hotelbar, genehmigte sich einen Drink und ein langes Gespräch mit dem Barkeeper, erzählte von ihrer Vergangenheit, ihrem Vater, ihrer Heimatstadt, wie sie früher über alles gedacht hatte, was sie einst zum Lachen gebracht hatte, wen sie gewählt hatte, was ihre Lieblingsmusik war, wie ihr Maine gefiel, wie authentisch es ihr vorkam, wann sie vorhatten, wieder nach Hause zu fahren. Dass sie sich wünschten, einfach zu bleiben, einfach nur dazubleiben. Genau das, was sie – Nancy – nicht tun würde.
    »Wollen Sie mal unseren Drachen steigen lassen?«, sagte der Mann zu ihr und zog seine Stimme am Ende nach oben, fast wie Tom. Aus irgendeinem Grund lächelte er jetzt, seine Augen leuchteten, als er mit einer neuen Haltung über seine haarige runde Schulter zurückschaute. Ihr fiel auf, dass er eine Brille trug – überraschend, dass ihr das vorher entgangen war. Der Drachen, dessen seidiger Faden sich in einem langen Schwung aufwärts bäumte, tanzte auf dem Wind, fast nicht mehr zu sehen, ein Sprenkel im Auge.
    »O ja, bitte, bitte«, rief die Kleine. »Das wird so toll.« Sie hatte die Arme ausgebreitet und hielt sie über den Kopf, als wollte sie einen riesigen, unvorstellbaren Wunsch ermessen. Sie lächelte unablässig.
    »Ja«, sagte Nancy und ging auf sie zu. »Natürlich.«
    »Sie können spüren, wie er Sie zieht«, sagte die Kleine. »Es ist, als würden Sie gleich zu den Sternen hochfliegen.« Sie fing an, im Kreis zu laufen, wie ein kleiner Derwisch im Gras. Der Rollstuhlfahrer schaute lächelnd zu seiner Tochter.
    Nancy war es peinlich. Sie fühlte sich gemustert. Schockierend war das. Die weite blaue Bucht lag am Fuß des Hügels ausgebreitet vor ihr, zog sich fort von ihr, schickte eine aufgefrischte Brise empor. Es war alles andere als sicher, dass sie den Drachen halten konnte. Er hätte sie durchaus abheben lassen können, sie fortreißen, weit fort, außer Sicht. Es war Furcht erregend. Sie

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