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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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uns hier ein Zimmer.« Sie lächelte etwas munterer und drehte sich um, hügelabwärts auf die Mitte von Belfast zu.
    Das Motel war ein frischer, neuer Maineliner Inn jenseits der Brücke, die sie beim Mittagessen gesehen hatten, und ihr Zimmer bot einen weiten, unverbauten Hinterfensterblick auf die breite glitzernde Bucht. Tom wirkte, als wäre er der Erschöpftere von ihnen beiden. Im Auto hatte er sich unpassenderweise als behelligter Stoiker aufgeführt, dem es schier die Sprache verschlagen hatte, dabei wirkte er nur verletzlich und launisch. Und kaum hatten sie eingecheckt, die Koffer geöffnet und die Vorhänge vor die Fenster des kleinen kühlen nüchternen Raums gezogen, schaltete er den Fernseher ein, ohne Ton, streckte sich in Kleidung und Schuhen auf dem Bett aus und schlief ein, ohne ein weiteres Wort als die Information, dass er gern Hummer zum Abendessen wolle. Schlaf war bei Tom immer tief, verstopft oder nicht verstopft.
    Eine Zeit lang saß Nancy in dem steifen Sessel aus Lederimitat neben einer Tischlampe und blätterte die Zeitschriften durch, die frühere Gäste in der Nachttischschublade hinterlassen hatten: Segeln mit einem Artikel über das Rennen London–Kapstadt; Marie-Claire mit mehreren Diagrammen über den Zusammenhang zwischen Eierstockkrebs und Alkoholgenuss; Hustler , in dem ein Gast sich als Amateurkünstler betätigt und den Mädchen tintige Schnurrbärte angemalt hatte sowie kleine Pfeile auf die Intimbereiche, mit Sprechblasen und Text: Hier lauert das Böse und Bleib bei deiner Einheit . Sexsüchtige Seglertypen mit Hämorrhoiden, dachte sie und schob die Zeitschriften wieder in die Schublade.
    Da lag noch ein Exemplar desselben Schnäppchenblatts, in dem sie beim Frühstück gelesen hatten. Sie las noch mal in der Kolumne »Unten im Osten sucht«. Komm nach Norden u. lerne reife, kuschelige jüd. Single-F kennen, echtes Schnuckelchen, NR. Mag Kontertanz u. Bootsfahrten im Mondschein, Nacktbaden im kalten, sauberen Meer. Alles ist möglich m. d. richtigen jüd. Single-M, NR, zw. 45 u. 55 m. sauberem Gesundheitsz. Bitte nur ernstgem. Zuschriften. Hü-hotts u. Kanadesen zwecklos. Nur Engl. Rührend, dachte sie, dieser allgemeine Glaube an das Mögliche, an das, was da draußen warten mochte. Was aber machte eine einsame jüd. Single-F in Maine? Und was mochte ein Hü-hott sein, dass er so unerwünscht war? Kuschelig, nahm sie an, hieß fett.
    Sie wollte jetzt gern eine Zeit lang möglichst wenig denken. Auf der Fahrt von Belfast her war sie wütend geworden und hatte das auch gezeigt. Wenig gesagt. Dann, als Tom an der Rezeption für das Zimmer bezahlte und sie im Auto auf ihn wartete, war sie plötzlich vollkommen un-wütend geworden, was Tom allerdings nicht bemerkt hatte, als er mit dem Schlüssel wiederkam. Und deshalb war er auch eingeschlafen – als wäre sein Schlaf ihr Schlaf, und wenn er aufwachte, wäre alles in Ordnung. Ein Moment des Friedens war natürlich nie unwillkommen. Und es war auch gut, das Leben nicht schon zu verkomplizieren, bevor es unbedingt sein musste. Toms ganze Suche hatte vielleicht einfach mit einer nachgeholten Angst vor der Rente zu tun – war wieder mal eine »Reaktion« –, und nach einiger Zeit würde er, falls sie die Dinge nicht zuspitzte, alles vergessen. Das Leben war voll von ernsthaften, aber bedeutungslosen Gesprächen.
    In dem stummen Fernseher lief ein Golfmatch; auf einem anderen Kanal ein Film mit dem jungen glattwangigen Clark Gable; woanders ein afrikanischer Dokumentarfilm mit lohfarbenen abgemagerten Löwen, die inmitten hoher brauner Gräser lagen und dösten, nachdem sie außerhalb des Bildausschnitts eine Beute erlegt hatten. Der Fernseher warf ein angenehmes wässriges Licht auf Tom. Bald waren riesige Wildebeest-Herden zu sehen, die heftig strampelnd in einem schlammigen, angeschwollenen Fluss untergingen. Das war friedlich in seiner Stille – trotz der vielen untergehenden Tiere –, als würde eher das, was man hörte, die Probleme schaffen, nicht das, was man sah.
    Dicht vorm Fenster hörte sie die lachende Stimme eines Kindes und die geduldige, tiefere eines Mannes, der irgendeine Ermutigung versuchte. Sie schob den schweren Plastikvorhang etwas beiseite und schaute im Gegenlicht der scharfen Sonnenstrahlen auf die Motelwiese hinaus, wo ein großer unförmiger junger Mann auf einem silbernen Rollstuhl, der ein ärmelloses rotes T-Shirt und weiße Baumwollshorts anhatte – seine Beine dick, stark, gebräunt und

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