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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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hatte das Wagner-Spielzeug in der Hand, um es dem Kind zu schenken. Das würde seine Wirkung nicht verfehlen. Und dann, dachte sie, auf die beiden zugehend und geschmeichelt lächelnd, dann würde sie den Drachen ergreifen – die Angel und die Angelschnur – ja, natürlich, und ihn fliegen lassen, die Chance ergreifen, stark sein, uneinnehmbar, und alles tun, was sie konnte, um ihn festzuhalten.

ABGRUND
    Z
wei Wochen vor dem Maklerkongress in Phoenix fuhren Frances Bilandic und Howard Cameron in ihrem jeweiligen Zuhause los – in Willamantic und Pawcatuck –, trafen sich im Olive Garden in Mystic und sprachen alles noch mal durch, immer wieder nervös auf der Resopal-Tischplatte die Finger verhakelnd. Dann gingen beide auf die Toilette, für einen verlogenen Handy-Anruf im Stillen, der erklären sollte, wo sie in den nächsten paar Stunden sein würden. Dann nahmen sie die Zufahrt zum Howard Johnson’s Motel unter der Interstate-Autobahn, trugen sich als Mr und Mrs Garfield ein, hatten binnen fünf Minuten die Kette vor der Tür, die Klimaanlage hochgedreht und die schweren Vorhänge vors Sonnenfenster gezogen und stürzten sich in die wüste Leidenschaft, die sie den letzten Monat seit ihrem Kennenlernen beim Preisverleihungs-Bankett ihrer Firma unterdrückt hatten – wo sie zu Connecticuts Immobilienmaklern des Jahres gekrönt worden waren.
    Was sich bei dem Bankett zwischen ihnen ereignet hatte, war ihnen selbst ein ziemliches Rätsel. Sie saßen nebeneinander an der Haupttafel und hatten kaum ein Wort gewechselt, bevor sie ihre Ernennung zu Maklern des Jahres überreicht bekamen. Doch nach dem ersten Gang erzählte Howard seinem anderen Tischnachbarn einen guten Witz über Alzheimer, und Frances lachte. Als Howard begriff, dass sie ihn gerade witzig gefunden hatte, trafen sich ihre Blicke auf eine, wie Frances fand, schockierende Weise, aber auch unleugbar, denn in ihren Augen hatten sie beide eine große, instinktive körperliche Anziehung empfunden (und deutlich erkannt) – ungefähr so, dachte sie, wie sie die Tiere wahrscheinlich andauernd verspüren, was ihr Leben sicher deutlich erträglicher macht.
    Binnen einer Viertelstunde tauschten sie und Howard schon bissige Seitenbemerkungen über die Tischetikette der anderen Preisträger, ihre unergründliche Garderobenwahl und ihr vermutliches Verkaufsverhalten aus und vermieden derweil das übliche öde Immobilieninsider-Gerede über Vertragsabschlüsse, katastrophale Gebäudegutachten und unglaubliche Auseinandersetzungen, die manche Kunden gewohnheitsmäßig im Auto anzettelten.
    Beim Dessert wagten sie sich schon an heiklere Themen heran – Meredith, Frances’ Zimmergenossin vom Junior College, die im Juni mit vierunddreißig (Frances’ Alter) an einem Hirntumor gestorben war; die Herzrhythmusstörungen von Howards Vater und sein unerfüllter Wunsch, einmal in Turnberry zu golfen, bevor er starb. Irgendwann, mit auf den leeren Tellern zusammengefalteten Servietten, gingen sie zur verblüffenden Kürze des Lebens über und zu der Notwendigkeit, aus jeder Sekunde so viel wie möglich herauszuholen. Bis der koffeinfreie Kaffee kam, waren sie schon mühelos zum Thema Sex gekommen, was für ein großes Missverständnis es in ihrer Kultur sei, dass die Puritaner daran schuld seien, dass Sex überhaupt ein Thema war , denn eigentlich sollte er doch natürlich und unstigmatisiert sein. Sie sprachen beide von ihren liebenden Ehegefährten, aber nicht sehr lange.
    Wie sie so an ihrer langen Tafel voller Mitpreisträger und Chefs saßen, direkt vor einem typischen Ramada-Inn-Bankettsaal voller lärmender, lachender Leute, die sie nicht kannten, jedoch ab und zu mit schmaläugigen, brennenden Pfeilen der Gehässigkeit durchbohrten, sickerte der Sex in ihr gedämpftes Gespräch hinein, wie ein dichtes, volles, aber explosives Geheimnis, das sie und nur sie beschlossen hatten zu teilen. Und dann … Alles und jeder in dem Raum, alles, was Frances und Howard für den späteren Abend vorgehabt hatten – nach Hause zu ihren Ehepartnern zu fahren, Ed in Willamantic, Mary in Pawcatuck, über dunkle, schmale Spätnachtsstraßen in Connecticut; die Zufallsbegegnungen mit Dummbeutelkollegen an der Bar; das Abhören der Anrufbeantworter wegen eventueller Kundenanrufe nach der Bürozeit –, jeder, einfach jeder Gedanke darüber, dass die Nacht womöglich ganz normal sei, ging zu Ende.
    »Die meisten Amerikaner erreichen ihre sexuelle Reife erst, wenn sie nicht mehr

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