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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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abgeschirmt. Er wollte sie wiedersehen. Nächste Woche. Etwas für dann verabreden.
    Nur war sie, begriff er, gerade dabei, sich aus den letzten Überresten ihres Interesses an ihm herauszuquasseln. Irgendetwas hatte offenbar schwach gewirkt. Dass er nicht willens gewesen war, jemanden umzubringen oder das zumindest zu behaupten. Sie legte die Latte höher, immer höher, bis er scheiterte.
    »Erzähl mir etwas, das dir passiert ist, Jimmy«, sagte sie. »Du hast heute Abend eigentlich noch gar nicht viel gesagt. Ich habe die ganze Zeit geplappert.« Den Namen Jimmy hatte sie noch nie benutzt. Sie war blass, aber ihre dunklen Augen glitzerten.
    »Ich bin heute Abend überfallen worden«, sagte Wales. »Auf dem Weg zu meinem Auto, in der Uni. Ein Schwarzer hat mich auf dem Parkplatz angesprochen und wollte sich einen Dollar leihen, und als ich meine Brieftasche herausholte, griff er danach. Schlug sie mir aus der Hand. Überall lagen Scheine herum.«
    »Meine Güte«, sagte Jena. »Und dann?«
    »Wir haben etwas gerangelt. Er versuchte, das Geld aufzuheben, aber ich habe ihn geschlagen, und dann ist er einfach weggelaufen. Ein paar Dollar hat er gekriegt. Nicht viel.« Er starrte sie über den Tisch mit den leeren Tellern an.
    »Davon hast du mir noch gar nichts erzählt, oder?«
    »Nein«, sagte Wales. »Ich war froh, bei dir zu sein und nicht daran zu denken.«
    »Bist du denn nicht verletzt worden?« Sie streckte eine Hand über den Tisch hinweg und berührte seine sanft.
    »Nein«, sagte Wales. »Überhaupt nicht.«
    »Hat dir das Angst gemacht?«, fragte sie. Das Interesse flackerte in ihren Augen wieder auf. Es gefiel ihr, dass er ein Mann war, der Tatsachen zurückhielt, der mit ihr schlafen und essen gehen und ans Tanzen denken und dabei all das für sich behalten konnte. Es gefiel ihr, dass er gegen einen anderen Mann anzutreten bereit war. Bis hin zu Handgreiflichkeiten.
    »Es hat mir tatsächlich Angst gemacht«, sagte Wales. »Aber woran ich mich erinnere – und ich kann mich nicht an vieles erinnern –, war das Gefühl, als seine Hand meine Hand traf. Es lag eine furchtbare Kraft darin. So etwas hatte ich noch nie gespürt. Das war Bedürfnis und Verzweiflung zugleich. Es war anziehend. Das werde ich ganz bestimmt niemals vergessen.«
    Wales nahm einen Schluck von seinem Wein und starrte sie an. All dies hatte er vor zwei Monaten erlebt, als er gerade frisch nach Amerika zurückgekehrt war. Nicht heute Abend. Er hatte keinesfalls mit so einem Mann gekämpft, aber der Schlag hatte sich zugetragen, wie er gesagt hatte, und auch sein Gefühl dabei war so gewesen. Aber nicht heute. Einen Augenblick lang wünschte er sich, diese Kraft wieder zu spüren. Wie befriedigend das gewesen war. Diese Gewissheit. Ihr gefiel die Geschichte. Vielleicht würde sie etwas in Ordnung bringen.
    »Bist du sicher, dass du nicht verletzt bist?«, fragte Jena, während sie mit gesenkten Augen ihre Serviette zusammenfaltete.
    »Nein, nein«, sagte Wales. »Ich bin nicht verletzt. Alles vollkommen in Ordnung.«
    »Du hast Glück, dass du am Leben bist, so ist das nämlich«, sagte sie und warf ihm einen Blick zu, dann suchten ihre Augen den Kellner.
    »Ich weiß«, sagte Wales, »ich werde es auf meine Liste glücklicher Zufälle setzen.«
    Auf der Straße, vor dem Drake, blieben sie nicht weit von der belebten Ecke der Michigan Avenue stehen, wo Taxis abbogen und vorbeischlichen. Es war nach Mitternacht und schien wärmer geworden zu sein. Der Wind hatte sich gelegt. In den Gossen schmolz das Eis zu schlierigem Wasser. Über ihnen schimmerte das Hotel golden in der Nacht.
    Sie standen einfach da. Wales schaute die Seitenstraße Richtung See hoch, als hätte er vor, ein Taxi anzuhalten.
    »Morgen früh fahre ich nach Hause«, sagte sie und lächelte ihn an, strich sich seitlich durchs Haar und hielt es fest.
    »Nach Hause, nach Hause«, sagte Wales. »Dann fahre ich auch ab.« Er wünschte, er hätte länger bleiben können. In seiner Tasche befühlte er die Schlüsselkarte zu ihrem Zimmer. Das war vorbei.
    Fast direkt neben ihnen stand ein Mann auf der Straße und sprach in ein öffentliches Telefon. Er trug einen Frack und hübsche Lackschuhe. Er war auf einer Party im Drake gewesen, schien jetzt aber über irgendetwas verzweifelt zu sein.
    Wales hatte damit gerechnet, dass er ihr von der Frau, deren Tod er mit angesehen hatte, erzählen würde, von seinem Erstaunen darüber – dass er das alles nacherzählen würde: die

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