Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
Vom Netzwerk:
geweht worden. Dicke Mäntel unumgänglich. Wales war guter Laune, im Einklang mit den Dingen. Erleichtert. Kein bisschen aufgelöst.
    In der Hotelhalle fand eine Hochzeitsparty statt, mit einer Braut, aber Jim mit den Tickets war nicht in Sicht. Auch kein Detektiv, als sie zum Haupteingang hinaustraten.
    Bei dem zügigen Fußmarsch wirkte Jena im Kopf etwas durcheinander, jetzt nach der Liebe, so als kriegte sie die Dinge nicht recht zusammen. Sie erwähnte ihren Mann und die Paartherapie – alles seine Idee, sagte sie, das Gesicht verborgen in einem Zobelparka, den bestimmt er bezahlt hatte. Sie sei mit allem zufrieden gewesen, sagte sie. Er aber habe mehr gewollt, etwas, das er selbst nicht recht beschreiben könne, dessen Mangel er aber lebhaft spüre. Es fehle an einem Gefühl der Verortung – seine Worte –, und dazu müsse sie irgendwie auch beitragen. »Ich dachte, ein Therapeut würde mir zumindest wichtige Erkenntnisse vermitteln, ja?«, sagte Jena. » Vergessen Sie die Ehe . Oder: So geht’s besser . Warum sollte man sonst hingehen? Bloß, das gehört nicht zum Leistungsumfang. Und der Leistungsumfang wird teuer.«
    Wales dachte über Jenas Mann nach, über Gespräche, die er mit ihm führen könnte. Dass sie sich vielleicht sympathisch wären. Der Mann dachte bestimmt, Jena sei verrückt geworden, nur weil sie war, wie sie war – so anders als Immobilien. Es machte Wales glücklich, dass Jena jemanden hatte, auf den sie sich verlassen konnte; jemanden, der willens war, Komplize des Betrugs an ihm selbst zu sein; und dass es diese Kinder gab. Ihren Kreis der Zuneigung. Was war die Ehe sonst, wenn nicht ein Kreis der Zuneigung?
    »Es sieht richtig hoffnungslos aus, oder?« Sie lachte, zu laut.
    »Vielleicht könnte keiner …« Er setzte an, etwas furchtbar Banales zu sagen, brach aber ab. Schüttelte den Kopf.
    Sie musste lächeln. Ihr Gesicht wurde weicher, anziehend selbst in der tosenden Luft, ihre Lippen leicht rissig. Sie nahm seine Hand, die zitterte, wie er feststellte. Immer noch die Nachwirkungen der Liebe, dachte er. Er hatte das Bedürfnis, gerade jetzt das starke Bedürfnis, ihr zu sagen, dass er sie liebe – hier auf der Straße. Aber indem er mitten im Satz innehielt, verhinderte er es wieder, sich zu offenbaren. Das war ihr lieber so. Ein Liebesschwur war unpassend, auch wenn er seinem Gefühl entsprochen hätte.
    Aber er wünschte, seine Hände würden nicht zittern, denn jetzt war der beste Zeitpunkt, der Augenblick nach der Liebe, da erschien alles möglich, alles einfach, da konnten sie einander mit einem Blick überraschen, fast alles ändern durch eine Bemerkung ganz nebenbei. Das hatte nichts damit zu tun, sich zu offenbaren.
    »Wenn du Chicago verlässt, wo fährst du dann hin?«, fragte Jena. Sie nahm seinen Arm, wie am ersten Abend, und sie traten an der Ampel auf die Michigan Avenue. Auf der breiten Straße war die Luft kälter. Eine Gruppe junger Nonnen huschte vorbei, unterwegs zum Drake in ihrem leuchtend blauen Habit. Sie lachten über die Kälte. Jena lächelte ihnen zu.
    »London«, sagte Wales. Der Wind fuhr ihm scharf unter den Kragen. Er hatte wieder an London gedacht, an seinen verwitweten Freund in Oxford. Er kehrte lieber über England nach Europa zurück. Der einfache Weg.
    »Hast du immer noch deine Wohnung in Berlin?« Sie redete einfach weiter, hörte nicht zu, etwas duselig im Kopf nach ihrer Nähe. Sie waren auf der Straße, in Chicago, im Winter, unterwegs zu einem späten Nachtessen. Es musste sich gut anfühlen zu sagen »deine Wohnung in Berlin«. So empfand er es. Es war wie »wir wohnen im Sixième«. Oder »gleich an der King’s Road«. Oder »wir haben uns hinterm Prado eingemietet«. Schlichte, harmlose Dinge.
    »Ja. Sie liegt in der Uhlandstraße«, sagte er.
    »Ist das im Osten?«
    »Nein. Im reichen Viertel. Nicht weit vom Zoo und der Paris Bar. Kudamm. Savignyplatz.« Sie wusste nicht, was diese Worte bedeuteten. Egal. Sie konnte sie hören.
    Ihr Restaurant kam in Sicht. Leute traten aus der Tür, kämpften sich in ihre Mäntel hinein. Abseits der Avenue ließ der Wind plötzlich nach, so dass sich die Luft fast frühlingshaft anfühlte. Sie gingen an den Schaufenstern eines großen, hell erleuchteten Buchladens vorbei. Drinnen wurde an hohen runden Tischen Kaffee getrunken und geredet. All diese Bücher, dachte Wales. Er freute sich darauf – das spürte er unvermittelt –, mit dem Zug von Gatwick in die Stadt zu fahren, einen Morgen für

Weitere Kostenlose Bücher