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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Verlangsamung der Zeit, die Behäbigkeit der Ereignisse, das Gefühl, dass sich das Schlimmste würde vermeiden und die Zukunft durch ein allmählicheres Voranschreiten verbessern lassen. Aber jetzt hatte er nicht mehr das Bedürfnis, die Gedanken zu enthüllen, zu denen er gebracht werden konnte, zu zeigen, wie sein Kopf funktionierte und was er als Reaktion auf Ereignisse fühlen konnte. Lieber ein Spion sein, lieber ihr jetzt nahe sein, sich an ihr freuen und nur an sie denken. Er wusste, er hielt die Dinge noch nicht ganz richtig auseinander und war sich nicht ganz sicher, welche seiner Gefühle die echten waren oder wie er später darüber denken würde. Es war vielleicht doch nicht so leicht, sich zu offenbaren.
    »Bist du glücklich über diese Tage?«, hörte er sie sagen. Sie lächelte ihn an, draußen auf dem kalten Bürgersteig. »Es waren doch wundervolle Tage, oder? Wäre es nicht schön, tausend davon zu erleben?«
    »Es tut mir Leid, dass sie vorüber sind«, sagte Wales. Der Mann im Frack knallte den Hörer auf und hastete davon, auf die beleuchtete Markise des Hotels zu. »Kann ich dich was fragen?«, sagte er. Es fühlte sich an, als brüllte er.
    »Ja«, sagte sie. »Frag ruhig.«
    »Hat es dir etwas gegeben?«, sagte Wales. »Habe ich dir etwas gegeben, woran dir lag? Es kam mir vor, als hättest du gern ein Resultat gehabt.«
    »Was für eine komische Frage«, sagte Jena mit leuchtenden Augen, die wieder zu wachsen schienen. Es sah aus, als würde sie gleich lachen, aber dann kam sie plötzlich näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund, hart, legte ihre kalte Wange an seine und sagte: »Ja. Du hast mir so viel gegeben. Du hast mir alles gegeben, was es gab. Oder? Das war es, was ich wollte.«
    »Ja«, sagte Wales. »Das habe ich getan. Das stimmt.« Er lächelte sie an.
    »Gut«, sagte sie. »Gut.« Dann wandte sie sich ab und ging eilig auf die Drehtüren zu, genau wie der Mann im Frack, und verschwand schnell. Obwohl er noch eine Zeit lang wartete, direkt vor der gelben Markise – ein Mann, der allein in einem braunen Mantel dastand; wartete, bis jedes Gefühl der Unordnung, das er wegen ihres Abschieds haben mochte, voll und ganz ausgekostet war und dann abnahm und kein so großes Hindernis mehr darstellte. Das waren keine schlechten Gefühle, kein Moment der Unvertrautheit, keine Trostlosigkeit, die sich vor ihm auftat. Sie waren nur das Resultat. Und bald schon, vielleicht irgendwann auf seinem Heimweg am See entlang, würde er eine kleine Entlastung verspüren, eine Erleichterung, das Gefühl eines Ereignisses, das sich vollendet hatte, so dass er mit der Zeit immer weniger daran denken würde, bis ihm schließlich alles im Nachhinein fast vollkommen erschiene.

RUF
    E
in Jahr nachdem mein Vater fortging, nach St. Louis zog und meine Mutter und mich in New Orleans zurückließ, wo wir uns allein durchschlagen mussten, so gut es ging, rief er eines Nachmittags an und wollte mit mir sprechen. Das war 1961, vor Weihnachten. Ich war auf Heimurlaub von der Militärschule in Florida. Meine Mutter hatte ihre neue Karriere als Sängerin begonnen, was sowohl Stimmbildung in einer örtlichen Musikschule mit sich brachte wie einen großen schwarzen Mann, der sie am Klavier begleitete, in unser Haus und ihr Schlafzimmer einzog und vor der Nachbarschaft als der Gärtner ausgegeben wurde. William Dubinion hieß er, und er und meine Mutter tranken viel zu viel, füllten die Aschenbecher, spielten ihre Jazzplatten zu laut und machten bis spätnachts unwillkommene Geräusche, kurz: als mein Vater noch da war, war das anders gelaufen. Jetzt lief es allerdings so, weil er nicht mehr da war, weil er mit einem anderen Mann nach St. Louis gegangen war, einem Augenarzt namens Francis Carter, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Ich denke, meine Mutter fand, dass es in Anbetracht dieser Tatsachen ziemlich egal war, was sie tat oder wie sie lebte, und dass es keinen großen Unterschied machte, ob sie das Schlimmste oder das Beste tat.
    Heute sind sie alle tot. Mein Vater. Meine Mutter. Dr. Carter. Der schwarze Pianist, Dubinion. Allerdings sehe ich manchmal auf der St. Charles Avenue im Geschäftsviertel einen Mann, der eins der neu gebauten Bürogebäude betritt – einen großen, gut aussehenden, flachshaarigen, jugendlichen, leicht ironisch wirkenden Mann mit großen Schritten, Seersucker-Anzug, Fliege und weißen Schuhen, der mich an meinen Vater erinnert, oder jedenfalls daran, wie er

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